„Das Fürsorge-Geschenk“ – taz

erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 21.4.2023

Es wird Abend nach einem sonnendurchtränkten, anstrengenden Tag. Eine Möwe hat mir eben im Flug ein Brötchen aus der Hand gerissen. Ich habe es mit meinem Rad knapp in einen der letzten Regionalzüge nach Hamburg geschafft.

Im Zug kann ich mein Rad im Fahrradabteil nicht anbinden, daher halte ich mich in Sichtweite. Im Viererabteil davor sitzt ein großer Mann, der laut in ein Telefon spricht, neben sich einen Döner. Ich setze mich etwas weiter von ihm weg.

Plötzlich erklingt eine Durchsage, dass wir in drei Stunden unsere Endstation Hamburg-Altona erreichen: „Schauen Sie aus dem Fenster. Genießen Sie gleich den Sonnenuntergang“, sagt eine freundliche Stimme.
Ich blicke von meinem Buch auf. Draußen beginnt das Licht vom Tag in den Abend zu kippen. Windräder ziehen vorbei. Kurz darauf kommt die Zugbegleiterin, der die Durchsage-Stimme gehört, und kontrolliert die Tickets.

„Ist es nicht toll, wie weit man heute sehen kann“, sagt sie. Wir blicken zusammen aus dem Fenster, sprechen über die Orte, die wir in der Ferne erblicken. Es wirkt, als hätte die Zugbegleiterin alle Zeit der Welt. Vielleicht liegt es daran, dass der Zug so leer ist. „Sie fahren bis nach Hamburg?“, fragt sie. „Wenn es gleich dunkel wird, können sie sich ruhig vorne in die erste Klasse setzen. Dann ist es nämlich manchmal unangenehm, wenn man hier so allein sitzt und es um einen herum dunkel wird.“

„Aber ich habe hier mein Rad“, sage ich. „Ketten Sie es einfach da an die Mitte im Gang an die Stange an“, sagt sie.
Danach gehe ich ins Erste-Klasse-Abteil. Es ist ein erleichterndes Gefühl, als ich mich setze. Die Sitze sind weich, es ist ruhig und hell hier. Ich spüre, wie ich sofort entspanne.
Die Zugbegleiterin kommt wieder vorbei: „Na, ist gut oder?“ Sie lächelt.

Später kommt ein junges Mädchen mit einem Klappstuhl in den Waggon. Ich frage mich, ob sie auch wie ich kein Erste-Klasse-Ticket hat. Als die Zugbegleiterin kommt, bedankt sich das Mädchen bei ihr: „Sehr aufmerksam von Ihnen.“ „Ja ich bin froh, wenn ich euch Mädchen und Frauen, die so spät abends allein reisen, bei mir hab“, sagt die Zugbegleiterin. „Es ist ja so schade, wenn das Erste-Klasse-Abteil leer ist.“
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Ich denke, dass sie die erste institutionelle Vertreterin überhaupt ist, die sich eigenständig um dieses Gefühl kümmert, das man sonst mit sich allein teilt. Abends allein im Dunkeln aufzupassen. Sie ist die Erste, der ich begegne, die das mitdenkt. Das Gefühl ist schon so tief in mich hinabgesunken, abends darauf zu achten, wer mit mir in einem leeren Abteil sitzt, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenke. Eine Art internalisierte, proaktive Selbstverteidigung einer Frau. So traurig das ist.
Die Videoüberwachung ist ja nur eine vermeintlich sichere. Denn es ist ja nicht so, dass einen dahinter eine Sicherheitsperson ständig im Blick hätte und sich direkt mit einem Hubschrauber ins Abteil abseilen lassen könnte, wenn etwas geschieht. Die Kamera beurteilt oft nur im Nachhinein, was passiert ist.

Später steigt noch eine dritte Frau in das Erste-Klasse-Abteil. Draußen geht die Sonne tiefrot unter. Ich werde müde, strecke mich aus und schlafe ein. Als ich aufwache, schläft auch das Mädchen hinter mir. Es ist eine friedliche Atmosphäre. Ein exklusiver Erste-Klasse-Wagen für Frauen, persönlich bewacht von einer Zugbegleiterin.

Später unterhält sich die Zugbegleiterin mit der letzten Frau, die zugestiegen ist. „Ich habe in Altona drei Stunden Aufenthalt“, sagt sie. „Iiihhhh“, antwortet die Zugbegleiterin mitfühlend. „Aber dann können Sie ja im nächsten Zug schlafen.“ „Ich kann in Zügen nicht schlafen. Vor allem, wenn meine Kinder dabei sind“, sagt die Frau. „Aber jetzt sind Sie ja allein“, sagt die Zugbegleiterin. „Einfach loslassen, einfach fließen lassen.“
Wie sie auf alle eingeht, denke ich. Was für ein netter Mensch. Mir fällt plötzlich auf, dass sie wie eine Mutter hier für alle Frauen ist. Und wie gut es tut, diese Fürsorge geschenkt zu bekommen.

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