erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 22.1.2021
Ein Sonntag im Jenisch-Park. In der Wintersonne treten die Umrisse klar hervor. Es sind viele Familien mit Kindern unterwegs, die draußen nach etwas Abwechslung zu suchen scheinen. Viele der Kinder sind quengelig.Der Alltag des Familienlebens zeigt sich verschärft inmitten der Kulisse mit den weiten Wiesen und großen Bäumen. Eine Familie mit zwei Kindern geht den Weg entlang. Ein Mädchen trägt einen Plüschfuchs in einem Tragetuch vor der Brust, es bleibt überall stehen.
Ein Kleinkind flitzt mit seinem Laufrad den Weg hinunter durch die Pfützen: „Handbremse“, schreit der Vater, der hinter ihm herläuft. Zwei Brüder pesen mit ihren Mountainbikes über einen kleinen Hügel im Wäldchen: „Schaut!“, ruft der kleinere Junge zu seinen Eltern, nimmt Anlauf und macht einen krummen Luftsprung über den Hügel.
Etwas seitlich vor dem Jenisch-Haus steht ein großer knorriger Baum. Die oberen Äste sind mit Drahtseilen verbunden, damit er nicht auseinanderfällt. In der Mitte des Baumes, wo die Stämme auseinandergehen, liegt in etwa einem halben Meter Höhe eine Kuhle. Ein kleines, vielleicht vierjähriges Kind klettert hinauf. Es setzt sich mit dem Hintern in die Kuhle des Baumes, lacht und lässt die Beine hinausbaumeln.
Sein Vater kommt hinzu. Er trägt ein Baby im Tuch vor der Brust und lächelt das Kind im Baum an. Das setzt sich so, dass es den Vater frontal anschaut, dann lässt es sich plötzlich rückwärts in die Kuhle hineinsinken, rutscht weiter nach hinten – und verschwindet auf einmal vollständig im Stamm.
Der Vater lacht überrascht. Er sieht ganz verblüfft aus. Er schaut für einen Moment ängstlich, aber vor allem voller Staunen. Sein Kind ist unsichtbar im Baum geworden, der ganz hohl sein muss, ohne dass man es von außen sieht.
Das Kind wurde verzaubert. Und es hat seinen Vater verzaubert: Es gibt in dieser Welt Bäume, in denen Kinder verschwinden können. Es könnte eine Szene wie aus „Pippi Langstrumpf“ sein, wenn Pippi in ihrem hohlen Limonadenbaum verschwindet.
Ich denke an Peter Lamont, einen Zauberer. Lamont hat vor ein paar Jahren auf einer Tagung einen Vortrag über das Wunder der Magie gehalten hat: „Magie verursacht eine einzigartige Art von Wunder, die uns tief daran erinnert, wie wenig wir von dem wissen, was um uns herum vor sich geht“, sagte er.
Der besondere magische Moment passiert laut Lamont, wenn das Publikum still wird, wenn die Münder sich öffnen und die Menschen staunen. Dieser Moment, in dem wir verblüfft werden, ist wie ein Geschenk. Wir machen eine wichtige Erfahrung: Es passiert etwas, das eigentlich für die Augen unmöglich ist, und trotzdem findet es statt. Wenn ein Flugzeug durch die Luft fliegt, reagieren wir nicht darauf, wenn ein Mensch durch die Luft fliegt, schon. Wenn wir verzaubert werden, stellt sich für einen Moment unsere gelernte Erfahrung auf den Kopf.
Was unmöglich für Erwachsene ist, muss jedoch nicht unmöglich für Kinder sein. Vielleicht sind sie dem Zauber deshalb näher. Wie selbstverständlich sich das Kind in vollem Urvertrauen hinterrücks in den Baum hineingleiten ließ. Wie es seinen Vater damit zeigte, dass er nicht alles um sich herum verstehen kann. Und der Vater nahm sich die Zeit und ließ sich verzaubern. Ein fantastischer Moment.
Das Kind streckt sich schließlich ein Stückchen aus dem Baum heraus, die Mutter kommt dazu und die drei lachen zusammen am Zauberbaum. Ich denke an die Alltagsszenen mit den Kindern im Park zuvor zurück, die ich plötzlich anders wahrnehme. Es waren alles Momente, in denen die Kinder Zauberinnen und Zauberer waren. Sie sprangen durch die Luft über Hügel, pesten durch Pfützen, trugen einen Fuchs vor sich her, verschwanden in Bäumen und hörten nicht auf, diejenigen zu verblüffen, die sich von ihnen verblüffen ließen.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott