erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 10.5.2019
Eine Familie. Vater, Mutter, ein Mädchen, der Kleinste ein Junge. Es ist Nachmittag, sie haben gerade zusammengefunden. Jeder wirkt, als wäre er eben mit etwas fertig geworden. Die Eltern mit der Arbeit, die Kinder mit der Schule. Sie umgibt dieses losgelöste Gefühl, das Menschen ausstrahlen, die in eine Aktivität aufbrechen.
Gerade warten sie zusammen an der Ampel, die Sonne scheint, an ihnen rauschen Autos vorbei. Die Kinder lecken ein Eis. Sie haben das gleiche Schokoladeneis am Stiel bekommen, essen es, als wollten sie sich damit unterscheiden. Der Junge knabbert in kleinen Mäusebissen zuerst die Schokoladenschicht um das Eis ab. Das Mädchen isst von oben nach unten zusammen Schokoladenhülle und Vanilleeis.
Ihren Eltern küssen sich kurz, fassen sich an den Händen. Das gleiche Leben, die gemeinsam verbrachten Jahre haben ähnliche Gesichtszüge in ihnen eingeprägt.
Die Mutter steht hinter dem Mädchen, zwirbelt jetzt an ihrem Pferdeschwanz „Du hast eine Eins“, sagt sie plötzlich zu ihr. „Wie toll!“ Das Mädchen schaut still nach vorne, isst weiter das Eis, aber sie hört genau zu.
„Was gab es sonst“, fragt die Mutter. „Frau …“, sagt das Kind. Ein Laster rauscht vorbei und verschluckt den Satz. „Da hat sie recht“, sagt die Mutter. „Das bist du auch. Ich meine, Schule ist nicht alles im Leben. Es gibt Dinge, die genauso wichtig sind. Aber ich freue mich für dich.“
Das Mädchen hat das Profil der Mutter, die gleiche, etwas längliche Nase. Sonst ist noch nicht auszumachen, welchen Abdruck die Mutter hinterlässt, wie die Sätze in sie hineinsickern, ob sie die Wirkung haben werden, die die Mutter sich vielleicht erhofft. Kleine Steinchen, die sie jeden Tag aufeinandersetzt, um ihr Kind großzuziehen.
Der kleine Bruder steht einen halben Schritt vor der Familie. Er ist klein und schlacksig, trägt kurze Hosen. Er ist versunken, ganz beschäftigt mit dem Eis, scheint sicher um seinen Platz bei diesen Menschen zu wissen.
„Und für dich freue ich mich auch“, sagt die Mutter jetzt und schaut den Jungen an. Bei ihm scheint auch etwas gut gelaufen zu sein, vielleicht hebt es die Mutter auch heraus, um sie beide zu loben, um es zwischen den Geschwistern ausgewogen zu halten. Das gleiche Eis, die gleichen Sätze, das gleiche Bemühen, ihnen gerecht zu werden. Eine Szene, in der von außen alles stimmt. Ein glücklicher Moment.
„Life is what happens to you while you’re busy making other plans“, singt John Lennon in „Beautiful Boy“. Leben ist das, was dir passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu machen. Leben ist das, was hier passiert. Ein Moment, der wahrscheinlich nicht als biografischer Höhepunkt im Fotoalbum dieser Familie kleben wird. Doch dieser Alltag bildet das Fundament, auf dem ihre Beziehung wächst, die Kinder groß werden. Jetzt hier an der Ampel passiert das Leben.
Diese Familie ist eine von vielen Familien, die versucht, es alles gut zu machen, das Beste zu geben. Ob sie wissen, wie groß das ist? Wie viel Glück in diesem Moment liegt? Wie der Junge die Schokolade knabbert, die Mutter die Haare des Mädchens dreht. Was wird davon bleiben? Wie sind die Geschwister miteinander, wenn sich der Altersunterschied relativiert, wenn der kleine Bruder auf einmal groß wird? Man kann schon jetzt seine definierten Unterarme erkennen, vielleicht wird er einmal so muskulös wie der Vater werden, der in dieser Szene still bleibt, die Mutter sprechen lässt. Wie wird das Leben, das jetzt passiert, ihr Leben prägen?
Ein Laster rauscht nah an dem Jungen vorbei, der vertieft ist in sein Eis. Ein kurzes schmerzhaftes Zucken. Was wäre wenn? Eine Sekunde und dann? Die Eltern dort scheinen nicht daran zu denken, sie vertrauen, dass es gut wird, dass die Kinder bei ihnen bleiben, dass sie wissen, wie sie ihre Schritte setzen.
Die Ampel schaltet auf Grün. Die Familie setzt sich nun in Bewegung, geht zusammen los über die Straße, läuft in den Park dahinter. Der Moment ist vorbei. Der Moment ist irgendwo geblieben.
Foto: Christa Pfafferott