erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 1.3.2024
Manchmal bezeugen wir unfreiwillig Momente im Leben Fremder, in denen sich schicksalhaft etwas ändert. Es ist, als würden wir in einen privaten Winkel blicken, der nicht für uns gemacht ist. Vor einiger Zeit sah ich einen Mann, der in der Hamburger Mönckebergstraße aus einem Kaufhaus trat, flankiert von zwei Polizisten.
Er wirkte gefasst, als ginge ihn das Ganze nichts an. Kurz schaute er unbestimmt in meine Richtung, bemerkte vielleicht, dass ich diesem besonderen Moment seines Lebens beiwohnte. Er schien zuvor etwas geklaut zu haben. Die Polizisten hielten einen Gegenstand in der Hand. Ich stellte mir vor, was er wohl eingesteckt hatte, welches Ding ihm nun eine Anzeige einbringen würde.
Wenn ich mitbekomme, wie die Polizei Menschen festnimmt, spüre ich eine Mischung aus Scham und Anteilnahme. Ich werde zu einem winzigen Bestandteil der Situation und muss mich irgendwie dazu verhalten: wegschauen oder hinsehen? Etwas entsetzt mich an diesem schicksalhaften Moment so, dass ich mir darüber oft im Nachhinein noch Gedanken mache. Vielleicht, weil ein verletzlicher Moment in einem Menschenleben entblößt für alle Augen da liegt.
Ähnlich war es letztens im Zug. Ich saß nachmittags in einem fast völlig leeren Großraumwaggon, war ins Lesen vertieft, als ich plötzlich die Stimme des Zugbegleiters hörte. Der Ton war gereizt, als würde der Mann seinen Satz bereits wiederholen: „Ihr Ticket?“
Eine undeutliche, verwaschene Stimme antwortete. Ich blickte zu einem Vierertisch ein paar Meter vor mir, wo es sich ein älterer Mann mit einer Flasche Bier gemütlich gemacht hatte. „Mein Ticket ist in meiner Jacke“, sagte er. „Ich fasse Ihre Jacke nicht an“, sagte der Zugbegleiter. Dann fragte er: „Brauchen Sie einen Notarztwagen?“ Der Mann antwortete nicht. Er nuschelte etwas, vielleicht war er betrunken oder verwirrt, doch ein Rettungswagen wirkte übertrieben.
„Na gut, dann mache ich jetzt eine Durchsage, ob Polizei im Zug ist“, sagte der Zugbegleiter. Er entfernte sich und blieb so lange weg, dass ich ihn fast vergaß. Doch am nächsten Bahnhof kamen zwei Beamte in Uniform durch den Gang und bauten sich vor dem älteren Mann auf. „Wohnungslos“, hörte ich einen der Polizisten fragen. Der Mann antwortete undeutlich. Dann plötzlich schrie er. Ein Jaulen wie von einem Tier.
Es fühlte sich falsch an, in dieser Situation anwesend zu sein. Ich ging zur Toilette. Durch die Tür hörte ich, wie die Polizisten den Mann durch den Gang abführten und er schrie. Ich dachte daran, wie gemütlich er zuvor auf seinem Platz gesessen hatte. Der Zug hatte durch den Vorfall 20 Minuten Verspätung. Was geschah nun mit dem Mann? Würde der Einsatz in einer Verkettung von Ereignissen vielleicht Folgen für sein Leben haben?
Ein paar Tage danach wurde ich frühmorgens durch einen lauten Knall wach. Blech knallte gegen Blech. Reifen quietschten. Sirenen ertönten. Es waren Geräusche von Gefahr. Ich lief zum Fenster und sah Polizeiautos, die ein Auto verfolgten. Eine Szene wie in einem amerikanischen Action-Film. Nach ein paar Metern stoppte die Verfolgungsjagd, die Polizeiautos umstellten den Fluchtwagen.
Ich stand am Fenster. Um mich wurde die Nacht langsam zum Tag. Blaulicht flirrte. Was passierte dort unweit von mir? Lag die Person da gerade etwa umstellt am Boden? Was hatte sie getan, dass sie geflohen war? Was würde nun mit ihr passieren? Wie würden die staatlichen Mechanismen in dieses Leben hineingreifen? Ich stellte mir vor, dass dieser frühmorgendliche Augenblick an der Straßenecke vielleicht der letzte freie Moment für längere Zeit im Leben dieses Menschen gewesen sein könnte.
Unweit von mir war eine menschliche Erschütterung zu spüren. Das Blaulicht blinkte durch die schwarzen Silhouetten der Bäume: schön wie ein expressionistisches Bild. Doch vor mir passierte ein individuelles Drama. Die Vögel zwitscherten. Sonst war es auf eine unwirkliche Weise ruhig.