„Du kannst Türkisch?“, fragt ihre Kollegin verblüfft. „Das wusste ich ja gar nicht.“ „Ja, mein Mann ist Türke“, sagt die Verkäuferin, es klingt stolz. Wir anderen sind auch überrascht. Genau das freut mich: Dass keine Erwartung stimmt, dass alles möglich ist, dass die Frauen mit Kopftuch kein Türkisch sprechen, aber die blonde Frau.
Sie tritt nun ans Mikro. Ihre Durchsage ist laut und klar: „Elyas steht vorne an der Kasse und möchte von seiner Oma abgeholt werden.“ Kurz darauf läuft eine ältere Frau durch die Kleiderständer. Elyas rennt mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, die beiden umarmen sich: „Danke!“ Die Frau lächelt uns zu. „Danke.“ Wir lächeln auch, froh und stolz, gemeinsam ein Rätsel gelöst zu haben.
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die tageszeitung, 27.4.2018
Neben mir schreit ein Kind. Ich stehe im Mercado Altona und ärgere mich, dass ein Geschäft nicht mehr existiert, für das ich extra angefahren bin. Kurz beneide ich das Kind, das seinen Frust einfach so in die Welt hinausschreien kann. Dann merke ich, dass das Weinen nicht nach Wut klingt, sondern nach Verzweiflung. Dicke Tränen laufen seine Wangen hinunter. Das Weinen schüttelt seinen Körper, er läuft zur Rolltreppe und wieder zurück, weiß nicht wohin mit sich.
„Wo ist deine Mama?“, frage ich ihn. Er reagiert nicht. In seinen großen, dunklen Augen sammeln sich immer neue Tränen. „Wo sind deine Eltern?“ Dann versuche ich es so, wie türkische Kinder ihre Mütter rufen: „Anne?“. Da weist er leicht mit seiner Hand zu C&A.
Zwei Frauen mit Kopftüchern und ein dunkelhaariger Mann bleiben nun auch stehen. „Ich glaube, er hat seine Mutter verloren“, sage ich. „Können Sie Türkisch?“ Sie schütteln den Kopf. „Arabisch“, sagen sie, und ich fühle mich kurz peinlich ertappt, wie schnell ich sie zugeordnet habe. Auch auf Arabisch reagiert der Junge nicht. Ein neuer Weinanfall durchschüttelt ihn. „Wir finden deine Mama“, sage ich. „Wir lassen sie ausrufen. Komm, wir gehen in das Geschäft und suchen sie.“ „Können Sie mitkommen“, frage ich die Frauen und den Mann, froh darüber, dass wir uns die Sorge um das Kind nun teilen. Sie nicken, und wir bahnen uns einen Weg zur Kasse.
„Der Kleine hat seine Mama verloren“, sage ich. Die Kassiererin geht zur Sprechanlage. „Was soll ich denn ausrufen?“, sagt sie hilflos. „Wie heißt du“, fragt sie den Jungen. Er schweigt. Dann murmelt er etwas in sich hinein. „Il-di-o? Heißt du Ildio?“ Der Kleine schüttelt den Kopf. „Eldio“, sagt die arabische Frau. Das hört sich stimmiger an, doch der Junge reagiert nicht. Die Verkäuferin spricht hastig ins Mikro, wie um den ungewissen Namen zu vertuschen: „Idio sucht seine Mutter, bitte zur Kasse kommen.“
Die Leute aus der Schlange haben sich nun um den Jungen gestellt. Wir warten darauf, dass die Durchsage etwas bewirkt. Minuten verstreichen. Niemand kommt, aber alle bleiben stehen. Mir wird ganz warm, wie die Menschen hier ihre Abläufe unterbrechen, als wäre es selbstverständlich, dass es erst weitergehen kann, wenn dem Kind geholfen ist. Der Junge scheint das zu spüren. Er ist ruhiger geworden.
„Man müsste der Mutter direkt ihr Kind wegnehmen“, klingt es da von der Kasse. Eine ältere Kundin steht dort. Ihr Gesicht ist verkniffen. „Aber Sie kennen doch gar nicht die Situation“, sage ich. „Doch, die kenne ich“, meint sie. „Er ist doch jetzt schon lange allein, und ihr ist es nicht aufgefallen.“ Ihre Sätze wirken wie Giftpfeile, ihr scheint es wichtiger, die Mutter zu bestrafen als dem Jungen zu helfen. Doch die anderen um mich ignorieren die Frau, als hätten sie längst gelernt, wie man mit Personen umgeht, die eine schlechte Situation benennen, aber nichts tun, um sie zu lösen.
Dann kommt eine hellblonde Kassiererin dazu. Sie kniet sich vor den Jungen, flüstert mit ihm. Schließlich richtet sie sich auf und lächelt: „Elyas“, sagt sie. „Elyas“, heißt er. Elyas? Wir lachen verlegen über den Fantasienamen, den wir uns ausgedacht haben.
Nur die Frau an der Kasse guckt noch böse, wirkt unzufrieden mit dem Ende. Ich spüre unmerklich einen inneren Triumph. Die anderen um mich beachten sie gar nicht. Wir laufen hinaus, gehen noch ein Stück zusammen, als wollten wir den Moment halten, verabschieden uns dann, beschwingt wie eine Gruppe nach einem langen, schönen Ausflug.
Foto: Symbolbild, © Christa Pfafferott
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