erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 11.12.2020
Im Park sind jetzt die Skulpturen verhüllt. Personen, die Großes geschrieben oder komponiert haben, im Frühling und Sommer standen sie immer da. Gesichter, die mir im Vorbeilaufen vertraut wurden. Jetzt stehe ich wieder im Park und muss fast lachen. Um Liszt herum ist ein kleines Häuschen gebaut, Parkmitarbeiter haben einen Bretterkasten um ihn genagelt und ein spitzes Dach daraufgesetzt. Um Shakespeare ist eine maßgeschneiderte Schutzhülle gegossen.
Die Figuren sind verpackt worden für den Winter. Sie liegen wie in Sarkophagen, Särgen, die sie die Zeit überstehen lassen sollen. Mich rührt das, wie das jemand gebaut haben muss, Holz geschnitten und Formen gegossen, um die Steine vor der Kälte zu schützen. Auch das Harte ist verwundbar.
Ich weiß nicht warum, aber ich stehe jetzt häufiger vor den Häuschen als vor den Skulpturen früher. Die Schneckenhäuser der Skulpturen, für mich sind sie sind fast die größere Kunst. Etwas liegt hier wie im Schlaf. In einer Winterruhe. Die Skulpturen haben Pause. Das Verpackte, Verborgene auf unbestimmte Zeit lässt etwas in mir ruhig werden. Die Häuschen sind so still.
Die Skulpturen wollten so viel oder die Künstler, die sie geschaffen haben. Sie riefen mich an, sie wollten eine Empfindung. Aber in diese Häuschen hat keiner etwas Besonderes hineingedacht. Sie sind entstanden, um etwas zu beschützen. Kunst des Alltags. Ich darf in sie ganz eigene Gedanken legen. Es ist, als verkörperten die Häuschen die introvertierte Seite von Shakespeare und Liszt. Das Wesen, das zurückgezogen in ihnen lag. Nicht der öffentliche Mensch. Das private, eigene Ich. So wie Menschen sind, wenn sie allein sind und sich von niemandem beobachtet fühlen.
Wie es ihnen jetzt wohl geht, den Skulpturen, versteckt unter ihren Hüllen? Vielleicht sind sie ja auch von etwas befreit. Es gibt noch nicht einmal ein Namensschild mehr, das auf ihre Existenz verweist. Wer sie vorher nicht kannte, weiß nicht, wer hier Großes liegt. Sie müssen nun nichts darstellen, sich nicht mehr betrachten lassen. Sie haben die Erlaubnis, still zu sein, und läuten damit auch für uns einen Winter ein. Es ist schön im Park im Winter, in der kargen Stille, in der sich die Reize verschließen. Die kalte, klare Luft ist hier nun das eindrücklichste Element von allen.
Als ich weiterlaufe, sehe ich schon von weitem eine Frau. Sie trägt eine weinrote Baskenmütze, einen Zopf. Im Vorbeigehen spricht sie mich plötzlich an. Zwei Sätze, so klar, betont und ärgerlich, als hätte sie als Bühnenschauspielerin nun ihren Auftritt: „Sie können mich anschauen! Was würden sich andere fragen.“
Ich schrecke zusammen, laufe starr an ihr vorbei. Was sagte sie? Ihre Sätze klingen wie ein Rätsel nach: „Sie können mich anschauen. Was würden sich andere fragen.“ Ja, sie hat mich ertappt. Ich sah sie nicht. Und ich wollte sie auch gar nicht sehen. Bis sie mich anschrie. Aber ich bin ja im Park. Ich muss mir doch nicht zu jedem etwas fragen müssen.
„Was würden sich andere fragen?“ Ich denke an die anderen, die auf der Straße laut sind. Der Mann auf der Mönckebergstraße, der mit nacktem Oberkörper in der Kälte Rocklieder sang, bis ihn die Polizei anhielt, weil er keine Maske trug. Da fragen sich viele nichts mehr, da lächeln sie, als hätten sie alle Antwort gefunden.
Ja. Was würden sich andere fragen. Als ich aus dem Park laufe, höre ich hinter mir wieder die Frau. Sie hat nun einen Radfahrer angesprochen, der schnell vor ihr davonfährt. Was sollte er sich fragen?
Vielleicht fühlt sich die Frau ja wie die Skulptur in einem Häuschen. Wir sehen nicht, was unter ihrer Hülle liegt. Wir blicken nicht durch. Aber sie sehnt sich danach. Was fragen wir uns über andere durch das hindurch, was sie umhüllt? Vielleicht sind sie ja Shakespeare oder Liszt, wer weiß es schon? Doch an diesem Tag im Park denke ich: Um jeden von uns Menschen liegt so ein Häuschen. Doch der Fehler ist zu meinen, dass andere unsere innere Skulptur sehen und befragen müssten. Dass in ihr unser Eigentliches liegt. Die Skulptur ist nicht der Kern. Wir sind nicht erst dann da, wenn sich andere etwas zu uns fragen. Wir sind immer da. Es wird erst schlimm, wenn wir auf die Fragen der anderen warten.
Foto: Christa Pfafferott