erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 22.6.2019
Mitten in der Fußgängerzone steht eine Familie und weint. Eine Mutter, ein Vater und zwei Söhne, die beiden sind vielleicht zwölf und acht Jahre alt. Der ältere Junge steht bei seinen Eltern und weint mit, als würde er etwas besser verstehen. Der Kleine steht etwas abseits und schaut auf den Boden. Er ist verlegen, als könnte er nicht einsortieren, was gerade geschieht. Der Vater weint, er hält sich ein Taschentuch vor die Augen und schluchzt, die Mutter weint auch. Sie umarmen sich. Der Junge hält seine Arme um die Eltern. Sie weinen da mitten im Trubel, ein privater Schmerz im Lärm der Öffentlichkeit.
Es wirkt, als hätten sie gerade eine plötzliche Nachricht bekommen, die sie alle gleichermaßen umhaut. Sie beweinen etwas zusammen als Familie. Ich schaue hin, ich schaue weg. Ihr Schmerz muss schlimm genug sein. Und jetzt stehen sie damit auch noch schutzlos mitten im Draußen. Die Hülle ist zerbrochen, die sonst im öffentlichen Leben die Emotionen verbirgt.
Ich breche gleich am Bahnhof zu einer Reise auf und will nur noch schnell an der Bank Geld abheben. Kurz bereue ich es, diesen Weg genommen zu haben, dass ich die traurige Familie als letztes Erlebnis vor der Abfahrt sehe. Ich ahne, dass dieses Bild noch in meinem Kopf bleiben wird. Und dann schäme ich mich für dieses Gefühl.
Es ist merkwürdig, Menschen in der Öffentlichkeit weinen zu sehen. Doch warum eigentlich? Es gehört doch zum Leben dazu. Warum sehe ich Menschen so selten draußen weinen? Wir lachen draußen, aber das Weinen spielt sich eher im Drinnen ab. Zumindest in Deutschland.
Kinder weinen draußen, aber irgendwann, wenn sie größer werden, hören sie auf damit. Es gibt Orte, an denen das Weinen selbstverständlich ist: Flughäfen, Bahnhöfe, Konzerthallen, Fußballstadien. Da wird das Weinen als Teil von Freude und Abschiedsschmerz akzeptiert. Aber sonst draußen an den zufälligen Orten, das traurige, einsame Weinen, das aus dem innersten Ich kommt, das findet kaum statt. Und wenn es doch passiert, scheint es eine Blase um die Weinenden zu geben. Als würde man den Traurigen einen höflichen Schutzraum lassen, ein weiß-rotes Absperrband um sie ziehen. Auch um die Familie in der Fußgängerzone liegt gerade diese imaginäre Absperrung.
Ich schaue ein letztes Mal zu ihnen, frage mich kurz, ob ich hingehen, etwas sagen soll. Sie wirken wie Touristen, die sich die Stadt anschauen, die hier eigentlich fremd sind. Diese Nachricht, die in ihr Leben geplatzt ist, wird nun in ihrer Erinnerung mit diesem Ort, dieser Stadt verbunden sein. Nein, ich traue mich nicht, in ihre Blase zu treten. Ich weiß auch nicht, ob ich dazu berechtigt bin.
Ich laufe zum Bahnhof. Als ich an der Ampel warte, denke ich an die anderen Fremden, die ich einmal draußen weinen sah und wundere mich, dass sich alle in mir so eingebrannt haben. Da war ein Mann in der Fußgängerzone eng an die Glasfassade eines großen Kaufhauses gedrückt. Er weinte bitterlich, saß eng zusammengekauert in der Hocke, als hätte ihn etwas in die Knie gezwungen.
Da war letzten Sommer der Junge, der allein durch die Allee ging, mit langen Haaren, sein Gesicht nass vor Tränen. Um ihn lag auch etwas Freies. Hatte er Liebeskummer? Er ging ganz offen in der Mitte der Allee. Und kürzlich der Mann am Shisha-Laden. Er weinte laut, ohne jede Hemmnis, ein dunkles Schluchzen, das aus ihm brach. Selbstverständlich saß er da auf dem Bürgersteig und weinte. Zwei andere Männer saßen um ihn. Vielleicht hielten sie mit ihm den Schmerz. Vielleicht hielten sie auch höflich Abstand.
Und dann denke ich daran, dass das Absperrband nicht die Traurigen ziehen. Es kommt auch von außen. Es sind eher die anderen, die Angst vor dem Weinen haben. Wer einmal angefangen hat zu weinen, hat die Angst losgelassen. Ich denke an eine Busfahrt vor Jahren, als ich weinte. Da hat sich eine Frau umgedreht und mir ein Taschentuch gegeben. Ganz lieb und selbstverständlich. Ich weiß noch heute, wie da jemand einfach kein Absperrband sah.
Foto: Christa Pfafferott