erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 7.8.2020
Der gleiche Ort. Und alle machen aus ihm etwas anderes: ein hohes Haus. Ein Dach im Licht. Die Abendsonne fließt über die Stadt. Zwei junge Männer sind hoch hinauf geklettert. Verboten schön sieht das aus. Sie sitzen auf dem spitzen Giebel, der Kante, auf der die beiden Dachhälften zusammenlaufen. Sie schauen über Hamburg.
Es ist einer dieser lauen Sommerabende, die zu schön sind, um zu schlafen. Die Luft ist weich und die Schwalben flirren. Die beiden Männer sind vielleicht Ende zwanzig. Es sieht gefährlich aus, wie sie dort sitzen, über den Dächern, die Hintern auf der schmalen Giebelkante. Sie schauen Richtung Elbe, zum Hafen, vor ihnen dreht sich ein Windrad. Sie sehen von dort bestimmt die Kräne, den Horizont, der weit im Süden liegt.
Die beiden sehen vertraut aus miteinander, entspannt, sie reden, trinken Bier. Stundenlang genießen sie die Besonderheit der verbotenen Szenerie. Hier oben über der Welt ist etwas freier, schöner. Es könnte ein Abend sein, der ihnen lange in Erinnerung bleiben wird, der ihre Freundschaft stärkt: Weißt du noch, als wir damals einfach auf das Dach geklettert sind? Als die Zeit geflossen ist?
Dann steht einer der Männer auf. Er bewegt sich zwei Schritte zur Seite. Er öffnet die Hose. Er pinkelt vom Dach. Ganz selbstverständlich steht er da. Sein Urin läuft über die Ziegel, bis hinunter in den Innenhof. Das Dach färbt sich dunkel.
Auf einmal ist die friedvolle Szenerie vorbei. Die Freiheit der beiden kippt in etwas anderes. Als würde die Ausgelassenheit einer Party plötzlich gefährlich. Der Moment, in dem sich tobende Kinder wehtun:
Ja, der Regen wäscht den Urin fort. Ja, vielleicht ist der Abend zu schön, um für die Toilette vom Dach zu steigen. Vielleicht könnte der Moment kaputtgehen, wenn man ihn unterbricht. Aber es ist doch nicht egal. Da unten wohnt doch jemand, will man rufen. Da sind doch noch andere. Auch wenn ihr Euch gerade besonders und allem enthoben fühlt. Ihr seid doch nicht allein.
Der Mann auf dem Dach, der auf alle pisst, wirkt plötzlich wie ein Bild, für das Miteinander unserer Zeit. Das gerade so fragil ist durch das Virus und doch zerschnitten wird durch Einzelne, die ihre momentanen Bedürfnisse über das Ziel einer langfristigen gemeinsamen Freiheit setzen. Der Mann schüttelt ab. Er schließt die Hose, er setzt sich wieder. Die beiden Freunde auf dem Giebel. Zwei schwarze Silhouetten. Das ist der Ort. Das haben sie aus ihm gemacht.
Nächster Morgen. Die Sonne geht auf. Wieder steigt ein Mann auf das Dach. Er ist vielleicht um die fünfzig, beleibt. Ein Arbeiter. Er steht für einen Moment still und schaut in die Ferne. Was denkt er wohl? Spürt er Freiheit oder Sehnsucht?
Dann kommt ein anderer Mann zu ihm hinauf. Für einen Moment könnten die beiden die Freunde vom vorherigen Abend sein, nur Nuancen ihrer Körpersprache verraten eine eher berufliche Professionalität zwischen ihnen. Sie beginnen mit der Arbeit, sie schrauben zusammen am Dach, hoch über den Häusern der anderen. Den ganzen Morgen ackern sie. Sie gönnen sich keinen Blick mehr. Sie machen keine Pause. Sie tun, was sie tun müssen. Dann steigen sie hinab. Das war der Ort. Das haben sie aus ihm gemacht.
Ein neuer Tag. Das Licht ist sanft. Auf dem Dach bewegt sich etwas. Ein Eichhörnchen. Rot, mit buschigem Schwanz huscht es vom Giebel über die Dachziegel hinab. Ein Bild wie aus einem Traum – ein Eichhörnchen so hoch auf dem steilen Großstadtdach. Wie ist es dort hingekommen? Was macht es dort? Kurz hält es an, schaut in die Ferne. Als würde es auch die Sicht genießen.
Dann huscht es weiter, flink und vertraut gleitet es über die Ziegel, auf die der Mann vor Kurzem gepinkelt hat.
Das Eichhörnchen gelangt bis zu einer Dachluke, die auf Kipp steht. Es wartet kurz, dann huscht es durch den Spalt hinein. Kurz ist noch der rote Schwanz zu sehen. Schließlich ist es verschwunden. Das ist der Ort. Das hat das Eichhörnchen aus ihm gemacht. Unter diesem Dach mit seinen Menschen hat es anscheinend sein Zuhause.