erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 27.11.2020
Warum vermissen wir manches erst, wenn es nicht mehr da ist? Häuser, Kunst, Tiere, Menschen: Plötzlich ist etwas fort. Etwas Ungeplantes, manchmal Unordentliches. Eine Energie, die uns ein Gefühl von Lebendigsein gab. Ein Grundrauschen, das den Alltag mit einem bestimmten Sounddesign unterlegte. Plötzlich stehen wir neben einer glatt betonierten Fläche. Einem leeren Haus oder Saal. Etwas hat aufgehört. Es sticht jetzt im Innern. Ein Stückchen Ich ist fort.
Maria ist weg. Jetzt begreife ich es. Vor ihrer Einzimmerwohnung im Hochparterre: eine glatte Vorhangwand. Maria würde die Vorhänge nie so schließen. Sie ließ die Blicke zu, in ihre Einzimmerwohnung. Auf ihre Kochzeile und den Fernseher, der immer lief. Maria gewährte den Blick in ihre Wohnhöhle wie in ihr Inneres. Maria war immer da. Ihr Fenster stand offen. Sie wohnte am Fenster.
Jetzt ist sie fort. Aber weiß ich es denn? Vielleicht lebt sie jetzt anders? Will nicht mehr, was sie früher wollte: „Kannst du mir was vom Edeka mitbringen?“ – „Gehst du in die ‚Kleine Pause‘?“ So hat sie die Leute angesprochen, die abends an ihrem Fenster vorbeiliefen, von der Schanze zum Kiez.
Sie redete von ihren Füßen, konnte nicht mehr gut laufen. Sie saß an der Fensterbank, oft aufgestützt auf ein Kissen, ein schwerer Körper. Ein Gesicht mit lieben Zügen, einer Brille, grauem Haar. Einmal hat sie auch mich gefragt, ob ich ihr etwas mitbringen könne: „Gehst du zum Edeka?“ Eine freundliche Frage. Als würde sie Kontakt suchen. Ich hatte keine Zeit. Ich wollte nicht zum Supermarkt und wieder zurück gehen. Sie nickte verständnisvoll.
Sie fiel mir wieder auf. Wie sie ihr Fenster mit den vergilbten Spitzengardinen dekorierte. Sie klebte medizinische Berichte an die Scheibe, dann hing eine Regenbogenflagge daran. Nett sah das aus.
Nebenan war eine Bar, in der die Leute abends lachten. Sie lebte direkt daneben mit dem Fernseher im Zimmer. Einmal hatte sie für die Vorbeigehenden einen handgeschriebenen Zettel aufgehängt: „Wer will mit mir Panini-Bilder tauschen? Ruft am Fenster einfach Maria. Ich würde mich freuen.“
Mich berührte das: dieser Wille zur Kommunikation, der nie abriss. Wie sie ins Außen ging, die Menschen suchte. Sie versteckte sich nicht, wie es manche tun, die allein sind; die sich für ihre Einsamkeit schämen und zurückziehen, bis sie ganz isoliert sind. Maria nutzte ihr Fenster als Lebensmittelpunkt. Als Sprachrohr zur Welt. Von ihrem Platz aus, von dem sie sich nicht mehr wegbewegen konnte, tat sie alles, um sich zu verbinden.
Einmal, an einem lichtdurchfluteten Vormittag, als die Stimmung auf der Straße gut war, blieb ich stehen und sprach sie an. Ich fragte sie, was sie so mache am Fenster. Ich bekam mit, wie sie für die Kinder aus dem Viertel an einem Körbchen Süßigkeiten hinunterließ. Sie sagte „meine Hunde“ zu den Hunden, die vorbeiliefen, und fütterte sie mit Leckerli. Als sie von ihren Geh-Problemen erzählte, blickten ihre Augen traurig. Sie sagte, dass sie seit Jahrzehnten auf St. Pauli lebte und schließlich lange Jahre in dieser Einzimmerwohnung.
Vor einiger Zeit ging ich wieder die Straße hinunter. Wie selbstverständlich wanderte mein Blick zu Marias Fenster. Ich erwartete ihr Gesicht. Doch die Wohnung war grell erleuchtet. Sie war kahl und weiß. Eine Malerleiter stand dort, jüngere Leute strichen. Maria ist weg, habe ich erschrocken gedacht. Und dann, dass vielleicht auch nur für sie renoviert würde. Als wollte ich den Gedanken nicht zulassen.
Manche Menschen sind wie Gebäude. Sie sind eigene Institutionen mitten im Leben, weil sie sich dem Leben zeigen. Wenn sie gehen oder entfernt werden, fehlt eine Energie.
Jetzt, da ich wieder an Marias Wohnung stehe und die fest vorgezogene Vorhangwand sehe. Jetzt spüre ich es: Der Vorhang ist zu. Da ist keiner mehr, der nach draußen will, das Außen sucht. Der sich nach den Menschen sehnt, nach Nähe und Fürsorge. Jemand fehlt. Maria, die der Straße ihr Gesicht hinhielt.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott