Es gibt Orte, an denen bewegen wir uns alleine, ohne Familie, da sind wir viele Stunden ein anderes, eigenes Ich. Das sind Bürogebäude, Universitäten, Schulen: Leistungsorte, die an Werktagen voll sind mit Menschen und am Wochenende leer. Manchmal zeigen Menschen ihren Vertrauten diese Orte. Das passiert dann oft an den leeren Tagen:
Bahnhof Dammtor, Nieselregen, ein grauer Sonntag, die Straße ist leer. Vor dem Hauptgebäude der Universität steht ein leuchtender Punkt. Er wirkt wie der einzige Farbtupfer in einem blassen Gemälde. Beim Näherkommen erkenne ich ein Mädchen in einem knallgelben Regenmantel. Mittig und gerade posiert sie vor dem Uni-Eingang. Etwa fünf Meter von ihr entfernt, den Blick auf sie gerichtet, stehen zwei Menschen. Es müssen ihre Eltern sein. Ein Dreieck von Vater, Mutter, Kind: Das Mädchen vorne an der Spitze, im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Der Vater hat den Zoom einer kleinen Kompaktkamera ausgefahren und lächelt. Er macht mehrere Bilder. Daneben steht die Mutter, sie schaut froh. Auch das Mädchen lächelt. Auf ihrem Gesicht liegt eine Mischung aus Stolz und Scham. Weil sie gesehen wird von den Eltern. Und weil sie wohl will, dass niemand sonst sie so sieht. Verlegen schaut sie zur Seite, prüft, ob sie allein sind, schaut dann wieder nach vorne zum Blick ihres Vaters: Klick. Noch ein Bild.
Als ich näherkomme, versuche ich sie nicht anzusehen, will ihr nicht den Moment nehmen, und doch kann ich meinen Blick kaum von der Szenerie reißen, von diesem selbstverständlichen Zusammensein. Finde es schön, dass sie sich an diesem Regen-Sonntag aufgemacht haben, um sich den Lebensabschnitt des Mädchens anzuschauen.
Kurz überlege ich zu fragen, ob ich die drei zur Erinnerung vielleicht zusammen vor dem Gebäude fotografieren soll. Dann merke ich, dass es nicht darum geht. Die Eltern sehen sich das Leben ihres Kinds an. Und egal, wie peinlich und unangenehm ihr das sein mag. Das ist wichtig. Immer noch und trotz allem. Jemanden zu haben, der sich ein Bild macht, der das Leben kontinuierlich analog mitverfolgt.
In meinen Gedanken heißt das Mädchen Annika. Annika sieht mit ihrer modischen gelben Gummijacke schon etwas hamburgisch angekommen aus. Die Eltern wirken einfacher, in dunklen, günstigen Outdoor-Anoraks, mit praktischen Haarschnitten. Ich stelle mir vor, dass die Eltern zu Besuch gekommen sind aus einer mittelgroßen Stadt – ein Besuchs-Punkt auf jeden Fall die Universität, wo Annika seit dem Wintersemester studiert. Sie fotografieren sie vor dem Verwaltungs-Gebäude, das nicht repräsentativ für ein Studium an der Uni Hamburg ist, aber am historischsten aussieht. Das Bild steht für das, was sie alle drei irgendwie geschafft haben. Bestimmt gibt es solche Fotos von Annika auch mit Schultüte vor der Grundschule, vor dem Gymnasium, vor dem Abiball.
Von mir gibt es auch diese Bilder. Und wenn ich mir sie heute anschaue, erinnere ich mich an das etwas stolz-verlegene Gefühl ihres Entstehens. Man will ja selber locker, flockig die eigenen Lebensschritte durchschreiten. Man kommt halt auf die höhere Schule, fängt an zu studieren. Und im Nachhinein sind sie so wichtig, nicht unbedingt die Bilder, aber die Erinnerungen, dass die Eltern da waren, dass sie Bescheid wissen wollten.
Ich stelle mir vor, wie Annikas Eltern zuhause in einer mittelgroßen Stadt von ihrem Besuch erzählen, wie sie das Foto vielleicht der Oma zeigen. Und wenn für Annika etwas nicht gut läuft, wenn sie sich verloren fühlt an der Uni, wenn sie sich Gedanken macht, ob sie das Richtige studiert – dann gibt es auch immer das im Hintergrund, dass die Eltern da waren, dass sie den Ort kennen, wo Annika studiert, dass sie Zeuge waren.
Szenen wie diese rühren mich. Eltern sind Zeugen des Lebens. Im besten Fall wollen sie alles mitbekommen. Sie fotografieren, kaufen Lokalzeitungen, in denen man vorkommt, heben Aufsätze und Zeichnungen auf, schauen sich Aufführungen an. Kaum jemand wird je wieder so unabdingbar Interesse haben, die Lebensereignisse nicht nur in der digitalen Timeline liken, sondern sich von ihnen an Regen-Sonntagen vor Ort ein Bild machen. Das ständige, selbstverständliche Interesse von Eltern, die seit Beginn Zeuge des eigenen Lebens sind, ist ein einmaliges. Wer solche Eltern hat, kann sich unfassbar glücklich schätzen.
Auf der anderen Seite ist die Geschichte von Annika auch nur eine erdachte Geschichte, ein Bild, das ich mir von den Drei mache. Jedes Familien-Dreieck ist ein auch immer fragiles. Jedes Bild, was wir uns in diesem Kreis voneinander machen, kann den anderen in einen Rahmen pressen. Und manchmal können Eltern auch einfach nicht Zeugen sein. Weil sie krank sind, verstorben, arbeiten müssen, getrennt sind und in verschiedenen Städten wohnen. Vielleicht sind sie auch nicht bei den wirklich wichtigen Ereignissen dabei, bei den inneren Schaltern, die sich im Lauf der Zeit umlegen, die mit den äußeren Orten unserer Lebensabschnitte wenig zu tun haben.
Und trotzdem: In dieser Verbindlichkeit, stehen Annikas Eltern, diese in der Masse unauffälligen und für sie wichtigsten Menschen, für etwas Wunderbares: Einander Lebens-Zeuge zu sein, da zu sein, die Orte und Lebensereignisse zu bereisen, die für Kinder, Freunde, Geschwister, Eltern wichtig sind – und anzunehmen, uns vor den Meilensteinen unseres Lebens den liebevollen Blicken mit Stolz und Scham zu stellen.
Ich bin an den drei vorbeigegangen, drehe mich dann noch einmal um: Das Mädchen löst sich vom Gebäude, sie steigt über ein eisernes Absperrseil, das den Uni-Vorplatz vom Bürgersteig trennt. Sie tritt zurück zu ihren Eltern. Der Vater packt die Kamera ein. Es regnet nun stärker. Sie gehen zu dritt nebeneinander die leere Allee entlang zur Bushaltestelle und entfernen sich: Ein leuchtender Punkt, daneben zwei graue – Hauptpersonen in einem Bild, weil sie einander selbst zu Hauptpersonen machen.
Beitragsbild: © Christa Pfafferott (Symbolbild)
4 comments
Ricci Sonntag, der 14. Januar 2018 at 13:13
Hat mich sehr berührt, Christa und an meine eigenen Lebens Stationen erinnert. Ich habe solche Eltern und bin unendlich dankbar, bis heute. Jedesmal wieder.
Christa Pfafferott Sonntag, der 14. Januar 2018 at 18:50
Liebe Ricci! Vielen lieben Dank. Ich freue mich, dass der Text etwas in Dir selbst berühren konnte – vor allem, weil Du selber diese „Lebens-Zeugen“ hast.
Marlies Hesse Sonntag, der 14. Januar 2018 at 13:42
Wieder mal gern gelesen und lange drüber nachgedacht!
Christa Pfafferott Sonntag, der 14. Januar 2018 at 18:46
Vielen Dank, liebe Marlies! Diese Rückmeldung von Dir als versierter Schreiberin freut mich wie immer sehr!