erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 6.4.2020
Wir sind in eine Falle geraten. Die Frau und ich. Sie hat ein kleines Gesicht. Einen großen Mundschutz. Unruhige Augen. Sie trägt Gummihandschuhe. Die Frau hat Angst.
Wir stehen einander gegenüber in einer Gasse. Zwei Spielfiguren, die nicht mehr vor und zurück können. Die Gasse ist ein Schleichweg, nur einen Meter breit, durch den man schneller zum Supermarkt kommt. Die Frau ist von oben bis in die Mitte gelaufen. Ich bin von unten in die Gasse gefahren, hinter mir am Rad ein großer Anhänger mit einer Kiste voller Flaschen. Ich habe erst aufgeblickt, als ich schon vor ihr in der Mitte stand. Zu spät. Zu nah. Uns trennt nur ein knapper Meter. Wenn wir aneinander vorbei wollen, müssen wir näher aneinander ran. Es ist das Ende. Ich spüre es. Sie sieht in mir das Ende.
Wir können nicht den 1,5-Meter-Sicherheitsabstand einhalten. Es ist, als wäre ich ein Fluss. Sie kommt nicht hinüber, ohne nass zu werden. Für einen kurzen Moment müssen wir den Raum teilen, gleiche Luft atmen. Es ist nun so natürlich, einem Mensch auszuweichen wie einem fahrenden Auto. Als würde die Existenz der anderen nicht eine Möglichkeit von Ansteckung, sondern die Gewissheit von Krankheit, Gefahr bedeuten.
Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass Menschen vor mir ausweichen. Es sticht kurz, wenn sie den Abstand vergrößern bei Begegnungen auf dem Bürgersteig. Ich grüße dann freundlich, wie um zu zeigen: Wir sind uns doch nah, wir gehören doch alle auf eine bestimmte Art und Weise zusammen.
Ich spüre, wie die Frau überlegt, was sie tun kann: Ob sie umkehrt, die ganze Gasse zurückgehen muss zur Straße, um nicht an mir vorbei zu müssen. Oder ob ich zurückfahre, ihr die Gasse freigebe, sodass sie weitergehen kann. Durch etwas Unausgesprochenes, Stummes wird klar, dass ich diejenige bin, die handeln soll. Dass unsere Bewegung nun von mir abhängt.
Ich werde plötzlich traurig. Für einen kurzen Moment habe ich Lust zu weinen. Hier in der Gasse verdichtet sich eine sonst unbewusste Trauer. Über die verinnerlichte Angst voreinander, die nun in der Zeit mit dem Virus zu spüren ist. Dass es nicht miteinander, sondern besser ohne einander geht.
Die Frau wartet, sie steht einfach da. Ich hätte das Recht auf die gleiche Angst wie sie. Ich weiß so wenig etwas über ihre Gesundheit oder Krankheit wie sie über mich. Aber ich fürchte mich nur vor ihrem angstvollen Blick, vor mir als Mensch, in dem ich als Person verschwinde.
Etwas muss geschehen. Mit dem Anhänger kann ich das Rad jedoch nicht wenden. Ich könnte nur langsam das Rad rückwärts schieben, die Frau so weiter nach vorn kommen lassen. Aber das Rad ist unhandlich. Es ist schwer, es so weit zurückzuschieben, ohne dass sich der Anhänger verkeilt. Ich spüre auch, dass ich mich so nicht entfernen will. Ist unsere letzte Chance wirklich der Rückzug? Das Verlassen des Spielfeldes? Die Gasse zu räumen, fühlt sich wie ein „Game over“ an. Eine Bekräftigung, dass wir als Menschen in unseren Eigenschaften nur noch auf unsere mögliche Ansteckung reduziert sind. Der Rest ist fort.
Ich schaue die Frau an. Plötzlich für einen kurzen Moment kommt mir alles wie ein Traum vor. Ich schaue aus einer anderen Zeit auf die Szene. Was hat sie da im Gesicht und was an den Händen? Was passiert hier? Warum stecken wir fest? Zwei Menschen, wie eingefroren, in sich gefangen. Ich spüre jetzt schon, dass ich mich an diese Szene erinnern werde. Die Frau wird ein Bild sein in dem Mosaik, mit dem ich mich selbst zusammenfüge.
Und dann halte ich die Luft an, als würde ich Anlauf nehmen. „Es geht schnell“, will ich rufen. Aber ich bin still, öffne nicht den Mund, um die Frau nicht zu ängstigen, schon ein Tröpfchen aus meinem Mund könnte sie ja aus ihrer Sicht vielleicht gefährden. Ich lächle sie an, trete in die Pedale. Ich fahre schnell an ihr vorbei. „Geht doch“, ruft die Frau. Es klingt hell und freundlich. „Geht doch.“ Als hätte sie gar keine Angst gehabt. Zwei Worte wie ein Appell.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott