erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 16.4.2021
Flügel schlagen. Flattern. Die Tauben sind wieder da. Ihr Gurren klingt, als würden sie mich auslachen. Schon so oft habe ich sie verscheucht, aber sie lassen nicht locker. Sie wollen auf meinen Balkon. Sie wollen ein Nest bauen. Unbedingt. Unter meinem Sofa.
Schon im letzten Jahr flogen sie immer wieder zu mir hoch. Meine Nachbarin unter mir empfahl mir, „einen Raben zu kaufen“: diese schwarzen Plastikdinger, die so unfreundlich aussehen. Sie hörte das Gurren und Flattern genauso wie ich. Schließlich, auch auf Rücksicht auf sie, kaufte ich eine Krähe und befestigte sie auf dem Balkonsims. Die Tauben beeindruckte das nicht. Sie flogen einfach weiter auf meinen Balkon.
Jetzt, zu Beginn dieses Frühlings, sind die Tauben wiedergekommen. Meine Nachbarin erzählte, sie habe beobachtet, wie eine Taube mit „Nistmaterial“ im Schnabel zu meinem Balkon hochgeflogen sei. Ich schaute unter das Sofa. Tatsächlich, da lagen dünne Zweige. Die Tauben waren offensichtlich dabei, für ihren Nachwuchs ein Nest einzurichten. Etwas daran rührte mich. Etwas daran ekelte mich. Auf meinem Balkon ein Nistplatz? Das ging nicht. Ich wollte hier ja selbst auf dem Sofa sitzen.
Ich fragte mich, wie Tauben eigentlich so etwas ausfindig machen? Warum flogen sie ausgerechnet zu mir? Wir fegten die Zweige unter dem Sofa hervor. Wir verkleideten das Sofa mit Holzplatten. Die Tauben konnten jetzt nicht mehr in den Spalt zwischen Boden und Sofa schlüpfen.
Doch sie kamen wieder. In den nächsten Tagen saßen sie auf der Balkonbrüstung. Sie flatterten auf den Boden und setzten sich nah an die Bretter heran, als würden sie nicht verstehen, dass ihr Nestplatz verschlossen war. Es waren dunkle, dicke Tauben, die tief gurrten, deren Flügelschlagen scharf klang. Es störte beim Arbeiten. Wenn ich sie sah, riss ich die Balkontür auf und verscheuchte sie. Doch sie flogen nur behäbig fort, und nur dann, wenn ich hinaustrat. Als wollten sie nicht akzeptieren, dass hier kein Platz für sie war:
Was bildeten sich die Tauben ein, dachte ich. Haben sie keinen Respekt vor mir und meinem Zuhause? Ob sie wohl dumm waren? Sie begriffen es einfach nicht. Dabei mussten sie doch bald woanders ein Nest für ihre Jungen bauen. Es ärgerte mich, wie sie nicht losließen, wie sie in meinen Schutzraum eindrangen. Ich fragte mich auch, warum sie mich so ärgerten. Lag es an ihrem schlechten Image als „Ratten der Lüfte“?
Ich begriff, dass es gar nicht so sehr die Tauben selbst waren. Es war auch das, was sich durch sie in mir widerspiegelte. Als stellten sie durch ihr Kommen auch meine Existenz infrage. Ich dachte an Patrick Süskinds Roman „Die Taube“, in dem eine Taube im Hausflur die Hauptfigur zutiefst verunsichert. Ich versuchte mich zu beruhigen. Es waren nur Tauben. Mehr nicht.
Dann erinnerte ich mich an einen Sitznachbar im Zug, mit dem ich ins Gespräch gekommen war. Er erzählte davon, wie sehr er Tauben mochte, dass sie meist monogam lebten und wie ihr Verhalten auf die Paarung ausgerichtet sei. Oft halten ihre Beziehungen ein Leben lang. Etwas ist nur unangenehm, solange man verhindert, es lieb zu gewinnen.
Hatte es nicht auch etwas Schönes, dass die Tauben bei mir ihre Jungen aufziehen wollten? Warum wollte ich sie fernhalten? Wäre es nicht vielleicht möglich, zusammen mit ihnen in einer gemütlichen Koexistenz auf dem Balkon zu leben? Doch ich arbeitete weiter daran, die Tauben zu vertreiben. Ich rückte Möbel, versetzte die schwarze Plastikkrähe auf der Brüstung.
Und dann, an einem Morgen, waren sie fort. Sie kamen nicht. Und auch nicht mehr in den Tagen danach. Kein Flügelschlagen, kein Gurren. Kein Lärm.
Ich war erleichtert. Endlich waren die Tauben weg. Doch sie blieben in meinem Kopf. Ich musste weiter an sie denken. Vielleicht vermisste ich sie sogar ein wenig: Wo sie jetzt wohl waren? Ob sie einen guten Nistplatz gefunden hatten? Ich sah Tauben, die über den Hof flogen, in ihrem Schnabel dünne, lange Zweige. Sie suchten woanders ein Zuhause. Bei mir blieb es still.
Foto: Alexander Meyer