Würde unter dem Schnee ein erfrorener Kater auftauchen, wenn es taute?
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 19.2.2021
Jetzt, da der Schnee getaut ist, hoffe ich, dass Bambam lebt. „Bambam ist zugeschneit worden“. In der Nacht, in der viel Schnee fiel, war er verschwunden. Ein Kater, ein bisschen getigert, etwas gefleckt. Bambam ist fort. Ein Zettel mit seinem Foto hing in der Straße, in der er fehlte, an jedem Laternenpfahl: „Wir glauben, dass er irgendwo eingeschneit wurde und nicht mehr raus kann. Bitte schauen Sie in Ihre Keller und Garagen. Bitte schaufeln Sie den Schnee unter ihren Autos frei. Er ist ein großer und scheuer Kater. Wir machen uns sehr viele Sorgen.“
Ich schaute beklommen auf Bambams Bild und den Schnee. Wo war Bambam jetzt? War er eingesperrt und hatte Hunger? Was deckte der Schnee zu? Würde darunter ein erfrorener Kater auftauchen, wenn es taute?
Ich dachte an die Familie, die ihn vermisste. Die wahrscheinlich jetzt die Straßen ablief und in Hinterhöfe schaute. Es ist schwer, zur Ruhe zu kommen, wenn etwas Grundsätzliches fehlt. Der Schnee hielt etwas verborgen. Und gleichzeitig machte er auch etwas sichtbar.
In manchen Teilen des Landes war der Schnee rötlich gefärbt gewesen. Die Menschen hatten sich gewundert – roter Schnee – es hatte fast apokalyptisch angemutet. Bis die Nachricht kam, dass es Wüstensand aus der Sahara war, der sich mit den Schneeflocken verbunden hatte. Er war in der Wüste aufgewirbelt und durch Winde bis nach Mitteleuropa gebracht worden. Saharaschnee: Was für ein Bild dafür, dass alles miteinander verbunden ist.
Der rote Schnee machte deutlich, was wir sonst nicht direkt wahrnehmen. Dass sich etwas Feinstoffliches über Länder und Kontinente hinweg zieht. So sehr man Grenzen schließen und sich gegen Viren und Kriege abschotten mag – es ist doch nicht möglich. Letztlich überträgt sich in der Atmosphäre immer etwas, was uns alle betrifft. Uns verbindet auf eine manchmal deutliche, manchmal unbestimmte Weise das Leid. In der Not besinnen wir uns darauf, rücken zusammen oder hoffen zumindest, dass uns die anderen helfen.
Es rührte mich, wie überall um Bambams Revier an diesen schneeverwehten Tagen die Zettel hingen. Wie die Familie hoffte, dass andere mit ihnen für ihren Kater achtsam wären und unter ihren Autos gruben. Wenn Menschen etwas vermissen, hängen sie noch immer, wie seit Jahrhunderten schon, Zettel auf. Wenn sie nicht mehr weiterkommen, hoffen sie auf die Augen und Herzen ihrer Nächsten.
Ich lese mir immer diese Vermissten-Zettel durch. Sie erzählen so viel von der Liebe der Menschen. Was ihnen wichtig ist und wie verletzlich sie dadurch sind. Ich hoffe dann, dass ich eine vermisste Katze einmal finde, dass mir etwas aufgefallen ist. Auch bei Bambam suchte ich innerlich die Straße mit meinen Augen ab. Doch nach ein paar Stunden hatte ich ihn wieder vergessen. Nur wer sich direkt sorgt, sucht lange.
In diesen Februartagen denke ich auch an Liam. Vor drei Jahren im Februar war er an einem Junggesellenabschied auf dem Kiez verschwunden. Er kam aus Schottland und hatte mit seinem Bruder und anderen auf der Reeperbahn gefeiert. In der Nacht war er verschwunden.
Seine Familie aus Schottland hatte Hunderttausende Zettel in Hamburg aufgehängt. Sein lächelndes Gesicht war einem überall vor Augen. Viele sprachen darüber. Die schottische Familie hoffte bis zuletzt, dass ihn jemand gesehen hatte, dass es Hinweise gab. Zehn Wochen später entdeckte ein Passant in der Hafencity einen leblosen Körper in der Elbe. Es war Liam. Sein Schicksal bewegte viele. Er war über Monate in der Stadt präsent gewesen.
Auch seitdem denke ich, wie gut es ist, dass die Menschen Zettel aufhängen. Selbst wenn man nicht helfen kann, wird einem so die Situation der anderen bewusst: Wie wichtig es ist, auf andere Menschen und Tiere mit aufzupassen, auch schon, bevor sie verloren gehen.
Wo ist Bambam? Ob er wohl wieder aus dem Schnee aufgetaucht ist? Noch nie habe ich einen Zettel gesehen, auf dem jemand, der gesucht hatte, davon schrieb, wie die Suche ausgegangen ist. Das würde mich freuen. Denn mit jedem Zettel werden wir stärker in das eingebunden, mit dem wir längst schon verbunden sind.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott