erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 1.12.2023
Café-Stimmung. Gespräche, Geklapper, Lachen, Zeitungsrascheln, Versunkenheit. Inmitten dieses gemütlichen Dahinfließens der Zeit an einem Samstagnachmittag sitzen meine Gesprächspartnerin und ich an einem Ecktisch.
Nach kurzer Zeit tritt ein Mann mit einem Kaffee an den Tisch eng neben uns in der Ecke. Sein Bart ist lang, seine Kleidung abgewetzt, an seinem Gürtel klimpert allerhand praktisches Zeug. Als wollte er möglichst viele Utensilien nah bei sich am Körper haben. Er drückt sich nah an die Wand und hustet.
Meine Gesprächspartnerin schaut ihn misstrauisch an. Sie hat gerade Angst davor, krank zu werden. Ich fühle mich für einen Moment zurückversetzt in die Zeit der Covid-Pandemie, als man Menschen vor allem als potenzielle Virenübertragende wahrgenommen hat.
Nach einiger Zeit bemerke ich, wie der Mann seine Jacke über seinen Körper ausbreitet und bis ans Kinn zieht. Er drückt sich in die Ecke, wie ein Kind, das Schutz sucht. Er sieht offensichtlich krank aus. Als würde er stark frieren. Als wäre ihm jämmerlich zumute. „Entschuldigen Sie“, frage ich, „geht es ihnen nicht gut?“
„Mir ist so kalt“, sagt der Mann. „Deswegen bin ich von der Straße reingekommen.“
„Leben Sie auf der Straße?“, frage ich. Er nickt.
Ich erinnere mich an dieses Gefühl, krank zu sein, wenn einem so unwohl zumute ist, dass man gar nicht richtig weiß, wohin mit sich. Der Mann hat keinen Ort, um sein Kranksein zu ertragen. Kein Bett zum Ausstrecken und Umherwälzen, keine Heizung, die er anstellen kann.
„Aber ich bin jetzt hier rein, weil es hier wärmer ist“, sagt er tapfer. Ich begreife, dass der ausgetrunkene Kaffee, den er vor sich stehen hat, sein Ticket ist für eine knappe Stunde Wärme.
„Kann man Ihnen irgendwie helfen?“, frage ich und höre mich selbst die unpersönliche Form des „man“ nutzen.
„Vielleicht noch ein Kaffee“, sagt der Mann. Seine Augen leuchten. „Und ein Stück Kuchen“, fügt er dann hinzu. Unmerklich richtet sich der Mann auf. Es wirkt, als wären seine Lebensgeister für einen Moment erwacht. Ich bemerke einen scheinbar unerschütterlichen Überlebenswillen. Wie er seine Chance nutzt, wenn sie sich bietet. Er hustet wieder.
„Okay“, sage ich, „dann bestelle ich das.“
„Der ist krank“, raunt mir meine Gesprächspartnerin zu. „Lass uns vielleicht besser gehen.“ Sie stürzt den Rest ihres Getränks herunter. Sie geht an seinem Tisch vorbei mit mir zum Tresen, um für den Mann zu bestellen.
Doch der Mann steht nun auch auf und kommt uns aus der Ecke nach. „Welches Kuchenstück möchten Sie denn?“, frage ich und zeige auf die Glasvitrine, wo die verschiedenen Kuchen ausgestellt sind. Er sucht sich ein Stück aus und geht zu seinem Platz zurück.
Meine Gesprächspartnerin wartet an der Tür. Ich nehme auch meine Jacke vom Platz. „Wir wollten eh gehen“, sage ich wie entschuldigend zu dem Mann. Als wir draußen auf der Straße stehen, tut es mir leid, dass der Mann jetzt allein mit Kaffee und Kuchen in der Ecke sitzt.
„Uh“, sagt meine Gesprächspartnerin. „Hat der gehustet. Hoffentlich haben wir uns nicht angesteckt. Er bräuchte jetzt eigentlich eine Suppe“, sagt sie. Ja, er bräuchte ein richtiges Bett. Einen heißen Tee. Auch wenn Kaffee und Kuchen besser sind als nichts, auch wenn ich die Angst davor verstehe, sich so direkt neben einem kranken Menschen anzustecken, spüre ich das unruhige Gefühl, etwas begonnen, aber nicht richtig zu Ende gebracht zu haben. Wie wenn man einem Kind Süßigkeiten schenkt, aber keine Zeit. Aber der Mann war kein Kind.
Sich anstecken. Was bedeutet das eigentlich? Sich anstecken lassen von Krankheit. Von einem Lachen. Von Witz, von Freude. Sich anstecken heißt andocken an etwas.
Später, als es dunkel wird, denke ich wieder an den Mann. Was er jetzt wohl macht, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken und sein Kuchenstück gegessen hat und wieder krank hinaus auf die Straße getreten ist.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott