erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 25.1.2019
Ob Jürgen das wusste? Was Jossi schreibt. In wackligen Buchstaben, mit Filzstift fest aufgedrückt: „Lieber Jürgen, Bitte komm bald wieder auf die Erde, Deine Jossi.“ Und ob Jürgen das wusste? „Jürgen, ich bin sehr traurig, dass Du nicht mehr da bist. Es ist sehr langweilig ohne Dich. Deine Büsra.“ Daneben auf dem Blatt hat jemand mit Kuli dazu gequetscht: „Danke Jürgen, du hast mich groß erzogen und meine vier Kinder. Gottes Segen sei mit Dir mein Engel. Dein Ahmet.“
Wie hat Jürgen das geschafft? Dass hier soviel Liebe hängt: An seinem Laden in der Clemens-Schultz-Straße in St. Pauli, gegenüber den Sozialwohnungen. Sein Schaufenster voll Kram: Gebrauchte Kleidung, Bücher, Technik, Plastik-Spielzeug. Vor der Ladentür stehen Kerzen und Blumen. Fast sieht es aus, als hätten die Menschen hier versucht, noch einmal reinzukommen, als würden sie nicht verstehen, dass diese Tür nicht mehr aufgeht. Als wollten sie die Klinke drücken, wie immer. Aber Jürgens Tür bleibt zu. Jürgen ist tot.
Jürgen hat etwas geschafft in seinem Leben: Viele Menschen waren glücklich darüber, dass es ihn gab. Vor Jürgens Laden auf dem Bürgersteig sitzen drei Männer um die 30 Jahre in der Sonne. Sie haben Stühle zusammengestellt, rauchen. Neben ihnen hinter Jürgens Schaufenster wackeln die Solarenergie-Püppchen noch mit den Köpfen.
„Mein Kind liebte ihn“, sagt ein Mann. „Alle Kinder liebten ihn. Das Spielzeug im Laden war billig: Zwei, drei Euro. Das konnten sich die Kinder von ihrem Taschengeld leisten. Oder die Eltern, die hier nicht soviel verdienen. Alle Kinder sind traurig.“
Eine Barbie-Puppe steht im Fenster, kein Original, aber dafür für zwei Euro fünfzig. Man merkt, hier wurden kleine Schätze herausgetragen. Jürgen war ein Ort, wo sich Kinder ein paar Wünsche selbst erfüllen konnten. „Er war immer hier. 30, 35 Jahre. Solange muss man erstmal durchhalten“, sagt der Mann. „Ich kannte ihn, mein Vater kannte ihn, mein Kind.“
„So sah er aus.“ Sein Freund zeigt auf seinem Handy ein Bild vom grauhaarigen Mr. Burns aus der „Simpsons“-Serie, dem das Atomkraftwerk gehört. „Das ist nicht höflich“, sagt der andere Mann. “Ja, aber ein bisschen sah er ihm ähnlich.“
„Er war da für die Menschen, aber die Menschen waren nicht für ihn da“, sagt sein Freund auf einmal. „Das schätzt man nie, das schätzt man immer erst, wenn einer nicht mehr ist. Ich habe das auch nicht genug geschätzt.“
Nebenan im Gebrauchtmöbel-Laden schauen sie skeptisch, als Jürgens Name fällt. Hier kämen gerade so viele rein und fragten. Menschen, die hilflos sind, weil nebenan keiner mehr aufmacht.
„Von morgens bis abends stand der im Laden“, sagt eine ältere Anwohnerin. „In der Woche und am Samstag. Der war immer da.“
Ein größeres Bild entsteht: Zu Jürgen kamen die Menschen mit wenig Geld und die mit viel Zeit. Kinder vielleicht nach der Schule, Rentner mit leeren Vormittagen. Doch vielleicht war der Laden ja auch für Jürgen selbst eine Zuflucht. Vielleicht war er hier nicht allein?
„Ein Kunde hat sich gewundert“, erzählt die Anwohnerin dann. „Dass der Laden zu hatte, dass er nicht öffnete nach Neujahr. Dann hat er die Polizei gerufen und sie haben Jürgens Wohn-Adresse rausbekommen.“
Sie überlegt, dann sagt sie: „Er lag da schon mehrere Tage, als sie ihn gefunden haben. Ja, so ist das.“
Jürgen hatte den Laden für viele geöffnet und die Menschen so an sich herangelassen. Jetzt Tage später stehen vor dem Laden frische Blumen, eine Orchidee ist dazugekommen. Und die Zettel sind da. Wie ein Mosaik setzen sie Jürgens Persönlichkeit zusammen oder das, was die Menschen bei ihm gesucht haben.
Ein Blatt mit St.-Pauli-Sticker: „Ich habe seit eben eine tiefe Trauer in mir, solch einen witzigen Zeitgenossen verloren zu haben. Dein Jearald“. Und in kleiner Schrift, als sollte Jürgen das sicher wissen: „Irgendwo, Irgendwann, Lieber Jürgen, sehen wir uns wieder. ‚Deine Oberschwester’“. Wusste das Jürgen, als er noch lebte? Dass er hier wichtig war?
Foto: Christa Pfafferott