erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 22.1.2021
Dieser Tage liegt ein großer Unterschied zwischen denen, die drinnen etwas bestellen, und denen, die es von draußen bringen. Unser Leben im Lockdown würde für viele ohne die Botinnen und Boten, die durch Schnee und Regen an unsere Türen kommen, nur schwer funktionieren. Auf der einen Seite wird es immer wichtiger, dass uns Waren zu Hause erreichen. Doch auf der anderen Seite werden die Botinnen und Boten immer unsichtbarer, immer stummer. Auf unheimliche Weise verschwinden die Menschen hinter dem Paket aus unserem Blickfeld.
Letztens sollte ich digital meinen Kurier bewerten, ob ich mit ihm zufrieden war oder ob es Gründe für eine Beschwerde gab, etwa, weil er keine Maske trug. Ich versuchte mich an den Kurier zu erinnern. Mir fiel ein, dass er freundliche Augen hatte, aber ich erinnerte mich nicht an sein Gesicht, ob mit oder ohne Maske. Er hatte mir atemlos ein Gerät hingehalten, auf dem ich unterschreiben sollte – Danke, bitte –, dann sah ich ihn wieder von hinten, auf dem Sprung zu einer nächsten Tür.
Manchmal höre ich in meinem Umkreis Beschwerden über die Botinnen und Boten: Sie sind meist in Eile, weil der Druck so groß ist. Sie klingeln manchmal sofort ein-, zwei-, dreimal. Und wenn man dann nicht schnell genug zur Tür gerannt ist, haben sie das Paket schon bei einem Nachbarn abgegeben. Manchmal stelle ich mir vor, was die Botinnen und Boten wohl für ein Zuhause haben, was für ein eigenes Leben und Schicksal. Doch sie bleiben hinter den Waren, die sie bringen, so sehr in ihrer bloßen Funktion, wie in kaum einem anderen Beruf.
Ich versuchte mir zu überlegen, was ich über meine Postbotin weiß, die Person also, die mir schon seit Jahren regelmäßig alle Briefe bringt, die über mein Leben entscheiden: Rechnungen, Briefe, Postkarten, Zusagen, Absagen, Einladungen und Behördennachrichten.
Einmal habe ich die Postbotin oder Briefzustellerin, wie es korrekt heißt, angesprochen. Ich wollte mich bei ihr bedanken, dass sie seit all den Jahren die Post bringt. Aber sie lächelte einfach wie immer, ein Lächeln, das vielleicht meinte, ja, das ist meine Arbeit. Und vielleicht fühlst du, dass der Beruf nicht so angemessen anerkannt ist, wie er es sein müsste, aber es ist okay. Und du änderst daran nichts und musst es nicht. Und ich muss es auch nicht.
Früher waren die Menschen, die die Post brachten, verbeamtet. In Märchen ist die Person, die sich durch die Landschaft schlägt, um eine Botschaft zu überbringen, eine wichtige Figur. Sie ist das Scharnier zwischen Sender und Empfänger. Botinnen und Boten müssen absolut zuverlässig sein. Letztens las ich eine Meldung, dass die Polizei zufällig in der Wohnung eines Mannes und einer Frau fast 13.000 Briefe gefunden hätte, die diese nicht zugestellt hätten. Was muss da alles drin gewesen sein an Zusagen, Absagen, Behördennachrichten, Briefen, die mit über das Leben entscheiden. Und die erst auffallen, wenn sie fehlen.
Bei uns klingelt die Postbotin in letzter Zeit, wenn der Briefumschlag zu dick für den Briefkasten ist. Sie kündigt dann durch die Sprechanlage an, dass sie das Paket in den Aufzug stellt. Sie weiß die Stockwerke zu den Namen, sie muss nicht nachfragen. Und dann lässt sie die Post in den jeweiligen Stock hochfahren.
Das hat etwas Witziges, wie sich die Türen öffnen und dann einfach nur ein kleines Paket im Lift steht. Vielleicht, denke ich, ist das aber auch ein Vorausbild auf die Zukunft. Wenn uns vielleicht Drohnen die Pakete und Briefe liefern, überall dorthin, wo wir uns aufhalten. Es gibt dann keine Botinnen und Boten mehr, die uns unsere Sendungen nach Hause bringen. Was für ein Privileg es doch ist, dass uns Menschen unsere Pakete und Briefe überbringen. Die von draußen kommen, die nicht unsichtbar werden dürfen.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott