erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 30.9.2022
Manchmal ist das Leben wie ein Märchen. Man steht mitten im Licht, das durch einen Nebelschleier auf eine Wiese fällt. Spinnfäden ziehen sich fast unsichtbar über den Weg. Sekunden so still und so klar, als wären sie ein Lied. Und man spürt etwas Größeres, das um dieses Leben liegt.So war es auch mit der Schnecke. Mit zwei Kindern hatten wir uns von einer Familienfeier gelöst. Ein kleiner Junge und eine Dreijährige. Wir liefen über die Wiese. Das Gras nässte die Füße, ich nahm das Mädchen auf den Arm. Wir liefen zum Waldrand. Das Mädchen wollte unbedingt eine Schnecke finden, schon den ganzen Tag. „Eine Hausschnecke“, sagte sie. „Ich möchte eine Schnecke mit Häuschen. Eine Häuschenschnecke als Haustier.“
Es hatte gerade geregnet. Perfekte Schneckenzeit. Jetzt müssten viele Schnecken herauskriechen. Am Waldrand suchten wir auf dem Boden, im Gras. Aber wir fanden keine Hausschnecke. Das kleine Mädchen war betrübt. Sie wollte noch tiefer in den Wald hinein. Doch es wurde dämmrig. Ich erklärte, dass wir zurück mussten. „Die armen Schnecken“, sagte das Mädchen. Sie war richtig traurig. Sie wollte so gern eine Hausschnecke als Haustier.
Am nächsten Tag ging ich in die Stadt. Auf dem Rückweg war ich in Gedanken. Mein Blick streifte einen Stromkasten. Und da plötzlich sah ich es: ein Schneckenhaus. Es klebte senkrecht an einem Stromkasten. Die Schnecke musste von der Erde nach oben gekrochen sein. Vorsichtig nahm ich das Schneckenhaus ab und drehte es um.
Das Haus war voll Schleim. Ich konnte nicht erkennen, ob die Schnecke noch lebte, ob sie sich nur zurückgezogen hatte oder ob sie gestorben war. Es war ein kleines Schneckenhaus. Bunt, spiralförmig durchzogen von einer dunklen Naht. Ich behielt das Schneckenhaus leicht in der Hand, hielt es zwischen Zeigefinger und Daumen, um es später dem Mädchen zu zeigen.
Ich ging so weiter. Die Sonne schien. Nach einigen Minuten vergaß ich, dass ich das Schneckenhaus in der Hand hielt. Dann plötzlich spürte ich etwas Weiches an meiner Fingerkuppe. Ich schaute auf meinen Finger. Und da war sie. Die Schnecke musste unauffällig herausgekrochen sein. Nun schaute sie aus ihrem Häuschen heraus, reckte ihren Kopf in die Welt. Drei Fühler hatte sie.
Ich schaute und staunte. Plötzlich war es da, das Leben. Ganz zart. Es wirkte wie ein Ja. Dass sich etwas zeigte und öffnete, plötzlich lebendig sein kann. Auch dann, wenn man kaum noch damit rechnet. Mit der kleinen Schnecke auf dem Finger stand ich da. Ich spürte ein umfassendes Glücksgefühl, freute mich über die Freude, die das Mädchen fühlen würde. Ein Moment im Alltag. Wie in einem Märchen.
Die Schnecke saugte sich an meinem Finger fest. So gingen wir zusammen nach Hause. Dann zog sich die Schnecke wieder in ihr Häuschen zurück. Ich setzte das Schneckenhaus vorsichtig in eine Schachtel. Ich musste nun von der Familienfeier abfahren. Das Mädchen war im Kindergarten. Es würde die Schnecke sehen, wenn es wiederkam.
Am nächsten Tag bekam ich ein Foto zugeschickt von der Schnecke. Sie war aus dem Schneckenhaus herausgekrochen und saß auf einem Apfelstückchen. Ihr geht es gut, stand dabei.