erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 26.11.2021

Handschuhe funktionieren nur als Paar. Wenn einer fehlt, sind sie sinnlos. Sie erfüllen zumindest ihren Zweck nicht mehr, beide Hände zu wärmen. Seitdem ich einmal einen Handschuh verloren habe, ist in mir ein ratloses Gefühl, was ich mit dem Übriggebliebenen mache. Ich bringe es nicht übers Herz und durch meinen Verstand ihn wegzuwerfen. Denn er funktioniert ja noch gut. Theoretisch. Praktisch fehlt ihm der andere.

Mich berührt es, wenn ich auf Zaunspitzen aufgesteckt einzelne Handschuhe sehe: Kinderhandschuhe, große Handschuhe. Als Kind wurden einem die Handschuhe an Kordeln befestigt und durch die Ärmel der Jacke gezogen. Erwachsen werden bedeutet das Zutrauen, groß genug zu sein, auf beide Handschuhe aufzupassen.

Der Handschuh, den ich verloren habe, war grau, aus weichem Leder. Meine engste Freundin hatte mir die Handschuhe zum Geburtstag geschenkt. Doch sie waren zu groß. Sie hatte sie gegen eine kleinere Größe umgetauscht. Es hatte sich gelohnt. Sie passten perfekt, waren warm und schön. Ich habe sie geliebt.

Und dann vor einigen Jahren in einer Nacht in einer Bar in Hamburg habe ich einen verloren. Am nächsten Morgen, einem kalten Sonntag, bin ich in die Bar zurückgefahren. Sie war dunkel, der Boden klebte. Ich fragte eine Reinigungskraft, ob sie einen Handschuh gefunden hätte. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Ich suchte den Boden ab und ging schließlich deprimiert nach Hause. Einen Handschuh zu verlieren ist schlimmer, als wenn ein Schal oder eine Mütze fehlt. Denn es bleibt mit dem anderen etwas zurück, was noch funktionieren könnte, aber es einzeln nicht mehr richtig schafft. Das Gefühl des Verlorenen geht mit dem des Alleingelassenen einher. Können einen Dinge verlassen? Was macht man mit dem übriggebliebenen Stück eines Paars? Vielleicht schmeißt man es am besten gleich weg.

Den Handschuh von meiner Freundin kann ich nicht wegwerfen. Er erinnert mich zu sehr an meine Freude über das Geschenk, ihre Mühe damit. Noch heute liegt er in der Kommode. Eine Erinnerung. Und ein Zeugnis.

Seitdem passe ich auf Handschuhe auf. Zu Beginn der kalten Jahreszeit bin ich darin sehr erfolgreich: Letztens stand eine Frau in der Bäckerei an. Als sie an der Reihe war, wuchtete sie ihre Tasche auf die Ablage vor der Glasauslage. Als sie gehen wollte, sah ich unter der Ablage einen Handschuh liegen: Schwarze Wolle, weiß gemustert, robust. Eigentlich passte er nicht zu ihr. Doch ich konnte die Möglichkeit nicht verstreichen lassen: „Ist das ihr Handschuh?“. „Ja.“ Sie bückte sich schnell, als würde er gleich wieder verschwinden. Sie verstaute ihn, bedankte sich und drehte sich dann wieder um: „Danke“, sagte sie nochmal. Ich verstand das zweite Danke. Etwas zu gewinnen, was man fast schon verloren hat, macht es besonders kostbar. Der Moment des „es ist gerade nochmal gut gegangen“ ist auf besondere Weise erleichternd. Beschützend.

Nur zwei Tage später trat ich im Dunkeln auf die Straße. Ein neongelber Mann räumte sein Fahrrad vom Bürgersteig eine steile Treppe hinunter in den Keller. Da sah ich einen Handschuh oben am Treppenabsatz liegen. Er musste ihm gehören: „Entschuldigen Sie“, rief ich. „Ihr Handschuh“. „Oh!“ Er trat aus dem Keller und blickte gleichzeitig erleichtert und erschrocken.

Er streckte seine Hand zu mir nach oben aus: „Wirf einfach!“ Schade, dass Handschuhe keine Geräusche machen. Es hätte beim Fangen ein perfektes Klick ergeben. Oder ein Klong. Wir lächelten. Ein Moment, der geklappt hat. In dem etwas einzelnes zusammen kam. Nichts war verloren. Wir schauten dem wunderbaren Phänomen des nur knapp Verlorenen, des Behaltenen zu.

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