erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 19.3.2021

Manchmal stößt etwas wie ein Blitz in unseren Weg. Ein Sonnenstrahl bricht durch die Wolken und plötzlich zerreißt es einen innerlich vor Glück. Oder da ist Musik, die von irgendwoher durch die Straßen spielt. Ein Klavier am offenen Fenster, ein Saxofon, dessen Klänge von einem weiten Leben erzählen, und plötzlich, auf eine neue Weise, ist man an die Welt gebunden. Es ist ein Moment, in dem die gesamte Aufmerksamkeit nur im Jetzt liegt. Der einem vollständig selbst gehört. „Deine Tränen weinen in mir“. Es ist dieser Satz, der mich ins Jetzt bringt.

„Deine Tränen weinen in mir“. Das steht auf einer Mauer unter der Oberhafenbrücke. Unauffällig, in Schreibschrift gesprayt. Ich fahre mit meinem Rad näher heran.

Ein Zug rattert über die Eisenbahnbrücke, Taubenfedern fliegen.
Manche Buchstaben sind etwas übersprayt. Das „r“ und das „e“ der „T r ä n e n“ sind nicht mehr ganz sichtbar. Steht dort wirklich Tränen? Kann dieser Satz wirklich so schön sein? Doch, es stimmt: „Deine Tränen weinen in mir“.
Ich bleibe vor der Wand stehen, vollständig in Resonanz mit dem Moment. Dann rattert wieder ein Zug. Zwei Radfahrer fahren lachend an mir vorbei. Ich schaue mich um. Sehe Taubenkot auf dem Boden. Der Moment ist vorbei, doch der Satz bleibt im Kopf. Als ich weiterfahre, klingt er wie ein Echo weiter: „Deine Tränen weinen in mir.“

Zu Hause gebe ich den Satz im Internet ein und finde ihn nur unter einem Social-Media-Beitrag. Vielleicht hat auch die Person diesen Satz erfunden, die ihn unter die Brücke geschrieben hat.
Bei Botschaften wie diesen frage ich mich immer, ob sie privat an eine bestimmte Person gerichtet sind oder ob dies eine Nachricht an die Welt ist: Ist dies ein Gefühl, das jemand mit nur einem oder mit allen teilt?

Wer hat das geschrieben? Ein junger Mensch, der mit einem Freund mitfühlt? Eine Person, die liebt? Eine Aktivistin, die an der Ungerechtigkeit in der Welt mitleidet?
„Deine Tränen weinen in mir“.

Vielleicht lässt mich dieses absolute Mitgefühl an diesem Satz nicht los. Mitfühlen bis zum Mitweinen. Über die Grenzen dessen gehen, was wir oft als sicheren Rahmen für uns abstecken.
Wer schon einmal neben einem lieben Menschen saß, der weinte, weiß, dass man anderen manchmal die Trauer abnehmen will.

Und dann weiß ich es. Es ist das Ende des Satzes, das mich so berührt. Das „in mir“.
„Deine Tränen weinen“, könnte es einfach heißen. Doch sie weinen „in mir“.
Die Träne ist ein flüssig gewordenes Gefühl, das ins Außen tritt.
Das Weinen geht immer raus. Wie soll das Weinen im Innen stattfinden? Das Innen ist doch kein Ort für Tränen.
Es ist ja gerade das Befreiende an Tränen, mit ihnen etwas hinauszulassen. Sich auszuweinen. Tränen bringen das Gefühl raus in die Welt, selbst wenn sie niemand sieht.

Wer die Tränen der anderen in sich weint, lässt in einem übertragenen Sinne die Trauer in sich ein. Die Tränen gehen wieder zu ihrem Anfang zurück. Zum Gefühl. Sie werden zu Mitgefühl. Sie weinen sich zurück, von dir in mich hinein. Eine besondere Verbundenheit entsteht.
Deine Tränen weinen in mir.

Vielleicht sind damit auch die ungeweinten Tränen gemeint, die Trauer, die sich anstaut und nicht abfließt. Die sich in Menschen einsperrt und sie schwer macht. Die Tränen, die eine Person für eine andere weint, die zu viel Angst vor ihren Gefühlen hat, um sie hinauszulassen.

Aber ach, was zerlege ich die Worte und die Tränen. Da ist ja immer etwas dazwischen. So wie jemand das „e“ und „r“der „T r ä n e n“ übersprayte, bleibt immer etwas Unvollständiges und Unverstandenes in dem, was wir sehen. Etwas, das unerklärlich bleibt. Und vielleicht ist es auch genau das, was einen plötzlich ins Jetzt bringt und an die Welt bindet. Das, was aus einem anderen Zusammenhang, einem Zwiespalt kommt. Tränen sind ein Geheimnis. Und auch, warum wir jemandem so nah sind, dass wir andere Tränen in uns weinen wollen.

Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott

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