erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 20.9.2024
Auf einem Spielplatz stehe ich und telefoniere. Meine Ohren hören etwas anderes als das, was meine Augen parallel sehen. Ich höre die Stimme einer Freundin und sehe Kinder, Bäume, die Anzeichen des Herbstes, der sich wie eine dünne Haut über alles legt. Und immer wieder gerät ein Mann in mein Sichtfeld. Er ist auffällig gekleidet mit einem Hut, Sakko, einer Anzughose und einer Papiertüte in der Hand.
Ein Mann mit einem zackigen Schnitt, der in dieser entspannten Spielplatzwelt auffällt. Seine Kleidung hat etwas anachronistisch, sorgfältig Ausgesuchtes, wie aus einer anderen Zeit, in der er vielleicht lieber gelebt hätte oder die er schick findet.
Am auffälligsten an ihm ist aber sein Gebaren. Von ihm geht etwas Unruhiges aus: Er tritt in ein Gebüsch, schaut von dort auf den Spielplatz, umrundet die Sandfläche, blickt über die Spielgeräte, dreht sich abrupt um, geht wieder zurück. Er scheint kein Ziel zu haben, sein Tun folgt keiner Logik, aber er geht auch nicht entspannt umher wie die Menschen um ihn herum.
Er schaut, läuft, wendet sich um, guckt wieder. Es sind hastige Blicke. Will er nicht bei etwas ertappt werden? Etwa, wie er hier Kinder anschaut? Blickt er deswegen nur so kurz?
Ich verstehe sein Verhalten nicht. Mit seinem Hut und den feinen Kleidern sticht er hervor, sodass man sich leicht an ihn erinnern und ihn beschreiben könnte – er wirkt fast so auffällig wie Gert Fröbe mit seinem schwarzen Hut und Mantel im Film „Es geschah am helllichten Tag“.
Meine Gedanken gleiten zu einem Winterabend in einer Kneipe zurück, in der ich mit einem Freund saß. Die zwei Töchter der Wirtin, im Alter von etwa elf, zwölf Jahren, servierten im Spaß das Bier, was bereits ein unbehagliches Gefühl in mir auslöste. Ein älterer, etwa sechzigjähriger Mann scherzte mit einem Kind, bei dem sich die ersten Zeichen von Brüsten unter dem T-Shirt abzeichneten.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass er flirtete. Er fragte, ob sie zusammen Eis essen gehen wollten, ob die etwa Elfjährige eine Handynummer hätte, die sie ihm geben könnte. Da fragte ich ihn, was das solle. Und als er sich als Freund der Familie ausgab, relativierte und abstritt, rief ich die Polizei. Es war ein Schritt. Aber es sind Kinder, die noch unbedarft sind. Die es im Zweifel lieber mehr als zu wenig zu schützen gilt, bevor sie später etwas Dunkles mit sich herumtragen, was sich vielleicht nie wieder auflösen wird.
Auf dem Spielplatz vor mir geht der Mann nun zum Weg, der zur Straße führt. Er schaut die Straße hinauf, riecht kurz an einem Stofftaschentuch, das er aus der Tasche zieht. Warum riecht er daran? Beruhigt er sich damit? Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich übertreibe oder ob meine Sorgen berechtigt sind.
Dann dreht sich der Mann abrupt um und geht wieder zurück auf den Spielplatz. In dem Moment bin ich alarmiert. Mit dem Telefon am Ohr gehe ich ihm nach.
Der Mann tritt plötzlich in ein Gebüsch. Er zieht einen Jungen an seiner Hand hinaus. Der Junge ist etwa fünf Jahre alt und weint. Ich erschrecke kurz, dann realisiere ich, dass der Junge zu ihm gehören muss. Er weint vielleicht, weil er verloren gegangen ist. Weil der Mann mit Hut nach ihm gesucht hat und möglicherweise gerade geschimpft hat, als er ihn fand.
Der Junge trägt einen Strickpulli, der auch aus anderer Zeit zu sein scheint. Der Mann hält ihn an der Hand, als sie vom Spielplatz gehen, aber er spricht nicht mit dem Kind. Der Junge weint weiter. Sie haben kein Spielzeug, nichts anderes bei sich. Ich schaue ihnen nach.
Ich verstehe jetzt. Der Mann hatte Panik um sein Kind gehabt, deswegen hat er sich so abrupt bewegt. Ich beruhige mich. Doch Fragen bleiben, als ich ihnen nachblicke. Warum spricht er nicht mit dem Kind? Warum weint der Junge? Warum haben sie nichts bei sich? Gehört das Kind wirklich zu ihm?
Ich denke, misch dich nicht ein. Und gleichzeitig schaue ich noch, in welche Richtung die beiden laufen.