„Das Monster in unseren Köpfen“ – taz
erschienen in taz, 8.12.2017
Text: Christa Pfafferott
Hamburg. Fünf Uhr, Feierabend. Die U-Bahn ist voll und still. Draußen regnet es. Neben mir sitzt eine Dame mit Goldschmuck und Prada-Tasche, vor mir ihre Tochter mit Louis-Vuitton-Beutel. Sie riechen nach Reichtum: Teures Parfüm, Haarspray, neue Kleidung. Sie unterhalten sich leise auf Russisch. Das Gesicht der Mutter ist streng, unbeweglich. Schräg gegenüber im Abteil sitzt eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß. Dann steigt hinter uns eine Bettlerin ein. Ich sehe sie nicht, ich merke es: An den Menschen, die mit dem Gesicht in ihre Richtung sitzen, die zusammenzucken, sich anspannen. Ich höre es an der Stimme, die hinter mir näher kommt:
„Ihr müsst euch nicht vor mir ekeln“, sagt sie. „Ich stinke nicht. Ich dusche zweimal am Tag. Manchmal bekomme ich Sachen von der Kleiderspende, manchmal sind sie zu groß, manchmal gefallen sie mir nicht. Aber ich nehme sie. Deswegen bin ich nichts Schlechtes.“
Ihre Stimme klingt, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Sie kommt näher. Ich warte darauf, dass sie nach Geld fragt, suche nach Münzen in meiner Tasche. Die Augen der reichen Tochter folgen meinen Bewegungen. Aber die Frau hinter mir bettelt nicht um Geld. Sie will etwas anderes. Sie geht durch den Gang wie durch ein Publikum. Die Frau schräg vor mir mit dem Kleinkind blickt misstrauisch nach vorne. „Ja, es ist schlimm. Die Leute ziehen ihre Kinder an sich, wenn sie mich sehen. Aber Ihr müsst keine Angst vor mir haben. Ich bin kein Monster.“ Die Stimme hinter mir kommt näher. „Wissen Sie, wie sich das anfühlt, wenn einen die Leute so ansehen?“
Die Frau geht nun an uns vorbei, und ich bin auf alles gefasst: Ihre Worte haben die Vorstellung von einem Monster in mir aufgebaut. Sobald ich sie sehe, merke ich jedoch, dass das Monster in ihrem Kopf sitzt.
An mir schlurft eine kleine Frau mit kurzen, orangenen Haaren vorbei. Den Bund ihrer Jeanshose hat sie an der Taille zweimal umgekrempelt, damit er festhält. Sie riecht nicht. Vermutlich würde sie in der Bahn nicht auffallen, würde sie nicht sprechen:
„Meine Eltern haben mich nach meiner Chemotherapie weggeschickt“, sagt sie. „Ich kann nicht mehr. Es ist alles so schwer.“ Als die kleine Frau vorbeigeht, wird das Gesicht der reichen Frau neben mir zu einer Maske. Sie schaut starr nach vorne, geht kurz in Augenkontakt mit ihrer Tochter. Zwei Augen-Paare, die einander zu sagen scheinen: „Ich weiß, was Du jetzt denkst. Der blöde Regen. Das nächste Mal sollten wir wieder ein Taxi nehmen.“
Die kleine Frau stellt sich nun vor die Türen im Mittelgang. Wie ein Lautsprecher gibt sie die mutmaßlichen Gedanken der Leute über sie wieder, als hätte sie unsichtbare Kabel mit unseren Köpfen verdrahtet. Ihre traurige Stimme dringt durch den Wagen und eine bedrückende Stimmung breitet sich aus. Sie steht da, klein und allein und konfrontiert uns alle mit ihrer Verlorenheit. Es bricht einem das Herz. Niemand reagiert auf sie, obwohl sie alle bemerken. Keiner weiß, mit dieser Person umzugehen, die nichts Eindeutiges haben will, nur etwas loswerden.
Dann spüre ich eine Veränderung neben mir. Durch die Frau mit dem strengen Gesicht scheint ein Ruck zu gehen. Sie öffnet ihre Prada-Handtasche, schaut ihre Tochter an. Sie wechseln kurze, vertraute Blicke. Sie nimmt ein großes Portemonnaie heraus und öffnet den Reißverschluss. Darin liegen Geldscheine, glatt und ordentlich. Sie nimmt einen Fünf-Euro-Schein heraus. Als einzige Person im Abteil steht sie auf, geht durch den Gang nach vorne, tritt nah an die Frau heran, gibt ihr den Schein in die Hand. Sie nickt ihr zu. Freundlich. Die Geste wirkt wie ein „Für dich. Kopf hoch.“ Überrascht schaut die kleine Frau sie an. Dankbar. Die Frau geht zurück und setzt sich. Ihr Gesicht sieht kurz weich aus, als würde sich etwas in ihr öffnen. Ihre Tochter nickt ihr bestätigend zu. Dann schaut die Frau wieder steif nach vorne, als wollte sie bloß keine Aufmerksamkeit erhalten.
Die Stimmung der kleinen Frau im Gang ändert sich nach dieser kurzen Begegnung schlagartig. Sie lächelt froh. Sie lamentiert nicht mehr. Sie ist nun friedlich. Zufrieden steht sie da und schaut vor sich hin. Dann spricht sie einen großen, blonden Mann neben sich an und erzählt ihm etwas. Der Mann muss anfangen zu lächeln. Auf einmal scheint sich das ganze Abteil zu entspannen.
Ich bin auch froh und gleichzeitig irritiert. Die Situation fühlt sich gut und irgendwie falsch an. Es kann nicht sein, dass eine Frau eine milde Gabe gibt und dadurch alles gut wird. Fast hätte ich es besser gefunden, wenn die kleine Frau durch das Geld nicht still geworden wäre, wenn sie ihre Situation weiter angeklagt hätte. Ihr wird es langfristig nicht besser gehen. In dieser Bahn sitzen Menschen, für die fünf Euro fünf Cent bedeuten und andere, die von Wagon zu Wagon, von Job zu Job, von einem Tag zum nächsten laufen.
An der nächsten Station steigt die kleine Frau aus. In ihrer Faust umklammert sie den Fünf-Euro-Schein wie einen Glücksbringer. Als sie draußen ist, schaut die reiche Tochter ihr nach, flüstert ihrer Mutter etwas zu, die Mutter nickt. Die beiden schauen voller Empathie und Verständnis. Sie sehen für einen Moment so aus, als würden sie sich an etwas erinnern. Was für Erfahrungen haben die beiden mit Armut gemacht? Nie weiß man, was hinter der Stirn eines anderen Menschen vor sich geht.
Die kleine Frau auf dem Bahnsteig will nun vorne in den nächsten Waggon steigen. Sie läuft schnell. Sie wirkt wie ein Mensch, der daran glaubt, dass es einen Sinn macht, sich zu beeilen. Sie sieht immer noch traurig aus, aber nicht müde.
Bild: © taz