erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 5.10.2018
Türen zischen, Kinder kommen. Eine Reihe Erstklässler, noch nicht lange an den Schulweg gewöhnt, stolz ein Buskind zu sein. Ihr Eintreten zeigt ihre Persönlichkeit. Manche halten beflissen ihre Brustbeutel mit den Schülertickets hoch. Andere laufen einfach am Fahrer vorbei, gewohnt, dass die Dinge so laufen, wie sie es wollen. In ihren Gesichtern ist das Leben vor ihnen schon angedeutet, aber noch nicht entschieden.
Wer von ihnen wird einmal glücklich werden, Liebe bekommen. Der magere Junge? Das Mädchen mit der roten Brille? Wer wird erfolgreich sein oder erfüllt? Wer kommt zurecht?
Die Kinder lassen sich auf die Sitze fallen. Gruppen werden deutlich, Anführer, die umringt werden, als würden die Kinder wie Tiere erschnuppern, an wen sie sich halten müssen.
Vier Mädchen pressen sich in ein Viererabteil zu einem schlanken Mädchen mit Urlaubsbräune. Ein dünnes Mädchen in neongelben Shorts stakst an ihnen vorbei. Sie zögert für einen Moment, hofft, dass sie gefragt wird. Als die Mädchen betont wegschauen, geht sie nach hinten und verschwindet dort hinter den Sitzen.
„Das sag ich dem Busfahrer“, sagt das schlanke Kind, als eine Mollige neben ihr den Fuß auf den Sitz legt. „Busfahrer“, ruft es mit hoher Stimme durch den Bus. Der Fahrer reagiert nicht. Er schaut nach vorn, als würde es den Raum hinter ihm nicht geben. Sie wirkt erstaunt, keine Reaktion zu erhalten, dann fällt ihr ein neues, wichtiges Thema ein.
„Nadja-Lias Eltern haben sich getrennt.“ Sie wartet, bis sie alle hören: „Ihre Mutter hat gesagt, wenn Nadja-Lia noch einmal mit ihrem Vater spricht, dann ist sie nicht mehr ihre Mutter. Und jetzt hat Nadja-Lia große Angst. Schlimm was?“ Die anderen Mädchen schütteln die Köpfe, selbst beeindruckt von ihrer Reife, wie sie das Unglück der anderen erkennen.
Der Fahrer steuert nun durch enge Gassen auf einen Dorfplatz. Im Bushäuschen dort warten Eltern: „Meine Mutter holt mich ab“, ruft das schlanke Mädchen stolz. „Meine auch“, sagt die Mollige schnell. „Alle Aufsetzen“, sagt die Schlanke. Die Kinder ziehen ihre Tornister auf. Draußen umschlingen sie ihre Mütter, als wäre auch diese Liebe ein Wettbewerb.
Es ist nun still im Bus. Der Fahrer fährt durch flache Felder. Minuten vergehen. Dann stakst auf einmal das dünne Mädchen mit den neongelben Shorts durch den Gang. Sie hat rotgeweinte Augen. „Ich hab vergessen auszusteigen“, flüstert sie dem Fahrer zu. Wie lange hat sie dort wohl schon gewartet, bis sie sich raustraute aus ihrem Versteck? Bis sie zugeben konnte, dass niemand sie vermisste und keiner draußen wartete. Ein Kind, das nicht wichtig ist. Ein Kind, das vergessen wird.
„Da kann ich jetzt aber nichts machen“, sagt der Fahrer. „Ich fahr jetzt nicht mehr zurück.“ Das Mädchen duckt sich nach hinten in die Sitze. Ein paar Gäste schauen ihr nach. Der Fahrer fährt schnell immer weiter von ihrem Zuhause weg. Es ist, als wäre das Kind nicht da, als würde es nicht existieren. Dann erreicht der Bus ein neues Dorf.
„Kann jemand seine Tour ändern?“ Der Fahrer spricht in die Funkanlage. „Da muss ein Kind zurück.“ Minutenlang scheppern Stimmen. Dann hält der Fahrer an: „Komm mal her“, ruft er. Zögerlich geht das Mädchen nach vorn, wie wenn es eine Strafe erwarten würde.
„Da fährt jetzt gleich ein Bus zurück. Ich bringe dich über die Straße“, sagt er. An der Landstraße bleibt er mit dem Kind stehen, bis keine Autos mehr kommen. Dann rennen sie auf die andere Seite zur Haltestelle. Dort wartet er mit ihr. Ein großer Mensch und ein kleiner Mensch, die in verschiedene Richtungen schauen. Doch das Kind sieht jetzt ruhig aus. Vielleicht wird das wichtig bleiben. Dass jemand da war und blieb, bis es nicht mehr allein war. Minuten wie kleine Bausteine für ein gutes Später.
Dann kommt der andere Bus. Das Mädchen verschwindet. Der Fahrer rennt über die Landstraße zurück, ganz bei sich, auf den Lauf konzentriert. Für einen Moment wird in ihm etwas anderes vorstellbar. Wie war er wohl als Kind? Er setzt sich wieder auf den Fahrersitz. Atemlos kommt ein Junge hinein. Die Türen zischen und der Bus fährt wieder los.
Foto taz:Christa Pfafferott