erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 26.1.2024
Es war eine einfache Beerdigung. In den Schnee hatten sie ein kleines Loch geschaufelt, in das nun gleich ihre Urne gesenkt werden würde. Die braune aufgeschüttete Erde bildete einen Kontrast zum Schnee. Marie würde keinen Grabstein bekommen. Das hatte sie so gewollt. Sie würde unter dieser Wiese liegen, die im Frühling sichtbar werden würde, wenn der Schnee wich. Eine Wiese auf dem Friedhof, unter der auch die Reste anderer Menschen ohne Grabstein lagen. Kein Stein würde an sie erinnern. Vielleicht vertraute sie auf die Erinnerung der Menschen. Erinnerung, die im Herzen bleibt, benötigt keinen bestimmten Ort oder Gegenstand.
Der Schnee gab der Beerdigung etwas Feierliches, Würdevolles. Und um das Grab standen die Menschen, die sie liebten. Ihre Kinder. Ihre Enkel und Urenkel. Mehrere junge Menschen, die um sie trauerten. Die beiden jüngsten Kinder hatten zuvor bitterlich in der Kirche geweint und aneinander umarmt, als Maries Urne aufgebahrt war und die Bestatterin zu ihrem Leben gesprochen hatte. Das Schluchzen der Kinder hatte die Kirche erfüllt, über den Sätzen der Bestatterin gelegen und selbst wie eine Rede, ein Kommentar zu der Verstorbenen geklungen. Marie Kleinschmidt. Sie hatte das Leben anderer geprägt.
Vor dem Grab stützten ihre Enkel die ältere von Maries Töchtern, der es schwerfiel, allein zum Grab zu gehen. Es war schön zu sehen, wir warmherzig ihre Angehörigen miteinander umgingen. Hinter der Familie mit etwas Abstand standen die Menschen aus dem Dorf.
Marie Kleinschmidt. Eine Frau, meistens mit Kittelschürze, die fast ihr ganzes Leben bis kurz vor ihrem Tod in ihrem Geburtshaus in Oberdorla gelebt hatte.
Sie war die Frau, über die ich einen Film gemacht hatte. Auf wundersame Weise hatten sich unsere Wege gekreuzt und damit viel bewirkt. Vor ein paar Jahren war sie die Straße hinuntergelaufen, mitten in die laufende Kamera hinein, als ich einen Mann zu einem Foto interviewte, das damals im Zweiten Weltkrieg an ihrer Straßenecke entstanden war.
Sie erzählte uns, dass sie den toten Soldaten, der auf dem Foto zu sehen ist, im Krieg als Fünfjährige gesehen hatte. Marie war der Grund, warum ich mich entschied, einen Langfilm über die Straßenecke zu machen. Mit mir ging sie tief in ihre Erinnerung zurück. Wir beschäftigten uns im Grunde die ganze Zeit mit dem Tod und der Bedeutung von Erinnerung.
Ich hatte sie sehr gemocht. Ihren Witz, ihre Fähigkeit, sich nicht so wichtig zu nehmen, auch das, was schwierig oder schmerzhaft war, und ganz selbstverständlich anderen zu helfen, sie zu stärken. Sie hatte auch mich gestärkt.
Und nun war ich ihr so nah gekommen, dass ich an ihrem Grab stand, bei ihrer Familie. Wie Menschen sterben, sagt viel über ihr Leben aus. Sie war bei Menschen gestorben, denen sie etwas bedeutete.
Es war die zweite Trauerfeier, auf der ich in diesem Winter war. Und wieder starrte ich auf das, was übrig war von dem Menschen, der bis vor Kurzem so viel gewesen war. Ein ganzes Universum. An Humor und Wissen, an Erfahrung, ureigenem Gefühl und Liebe, an Schmerz und Körper.
Es ist eine Plattitüde, aber an jedem Grab wird mir immer wieder aufs Neue bewusst, dass wir nichts Irdisches mitnehmen können am Ende. Dass nur das bleibt, was wir in Verbindungen investiert haben. In Hingebung an eine Sache, an die wir geglaubt haben und die das Leben anderer berührt.
Nach der Beerdigung, auf dem Weg zum gemeinsamen Kaffeetrinken im Gemeindesaal, nahm mich eine Bewohnerin im Auto mit. Sie kannte Marie und ihre Familie von klein auf. Wir schwiegen, der Schnee glitzerte im Sonnenlicht. „Das zeigt einem wieder, dass man vielem nicht so viel Bedeutung geben soll“, sagte sie plötzlich. Ihre Augen schimmerten. „Wie meinen Sie das?“, fragte ich. „Ja. Vieles im Alltag nicht so wichtig zu nehmen. Am Ende zählt etwas ganz anderes.“