erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 16.11.2018
Abendstimmung. Wie drei riesige Grillstäbe spiegeln die Mundsburg-Türme das bernsteinfarbene Sonnenlicht auf die Alster. Die Menschen auf der Kennedy-Brücke bleiben stehen. Sie fotografieren, schauen still. Die Sonne färbt die Silhouette Hamburgs in ein tiefes Orange. Sekunden zwischen Tag und Abend, in denen das Jetzt intensiver wirkt.
Ich bin auf dem Weg zur Moschee an der Alster. „Um 16.52 Uhr“, hat mir der Mann am Telefon gesagt, sei an diesem Mittwoch der Ruf zum Gebet. „Sie sind herzlich willkommen“, keine Frage dazu, ob ich Muslimin bin, was ich überhaupt will.
Ich komme, weil ich mir Gedanken mache: Ein Freund hatte mir erzählt, dass er die Besucher nach den Gebeten häufig an der Bushaltestelle warten sieht. Ihm fiel auf, dass sie sehr still sind. Gegenüber am Restaurant lärmten die Menschen. An der Bushaltestelle stünden sie, als wollten sie nicht auffallen. Lieber etwas leiser sein, bevor sie zu laut werden. Wie wenn man zu Besuch ist.
Es kann nur ein Eindruck gewesen sein. Trotzdem dachte ich darüber nach. Wenn Menschen still werden, ist das selten gut. Wenn Kinder still werden, tragen sie oft etwas auf der Seele. Sollen sich Menschen so anpassen, dass darin die eigene Lebendigkeit verschwindet? Aber vielleicht war die Stille ja auch einfach eine nachdenkliche. Trotzdem habe ich an Istanbul gedacht, als ich dort zu Gast war vor fünf Jahren. An die Menschen in den Moscheen, die sich dort treffen, um zu beten, aber auch um zu sprechen, um zusammen zu sein. Seitdem war ich lange in keiner Moschee mehr gewesen, höre über Muslime nur noch im Lärm der Öffentlichkeit. Wie geht es ihnen eigentlich?
Ich stehe jetzt im Dämmerlicht vor der blauen Imam-Ali-Moschee an der Alster und treffe auf eine ältere Frau. Wir kennen uns nicht, doch wie selbstverständlich weist sie mir den Weg hinein. Vor dem Gebetsraum ziehen wir die Schuhe aus, sie holt ein Tuch für sich und eins für mich, mit dem ich mich bedecken kann. „Ich bin keine Muslimin“, sage ich zu einer anderen Frau. „Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich dabei bin?“ Sie nickt: „Unser aller Gott ist gleich“, sagt sie.
Die Menschen versammeln sich auf dem Gebetsteppich. Der Imam betet die arabischen Verse, der wiederkehrende Rhythmus von Bücken, Knien und Aufstehen beginnt, entfaltet eine ernsthafte Ruhe und Kraft im Raum.
Nach dem Gebet führt mich eine der Frauen zu einem Mann, Jafar, so stellt er sich vor. Der Mann vom Telefon, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. In der Mitte des Gebetsraums auf dem großen Teppich sprechen wir. Ich erzähle von der Stille an der Bushaltestelle. Er nimmt das Beispiel wie einen Faden zu einem Thema auf, über das er schon viel geredet und nachgedacht hat: Ja, sie würden eine Veränderung spüren als Muslime. Die Angst vor ihnen werde geschürt.
Doch wenn sich etwas verändert, sei es klar, dass auch gestritten wird: „Es gibt ein Bild von einem Tisch“, sagt er. „Die Generation unserer muslimischen Großeltern hatte mit dem Tisch nichts zu tun. Unsere Eltern saßen dann mit am Tisch und unsere Generation will nun auch mitbestimmen, was für ein Kuchen auf diesem Tisch steht.“ Es sei natürlich, dass dadurch auch Streit entsteht. Aber das zeige auch, dass es um die Integration besser stehe. „Früher gab es keine Kopftuchdebatte, weil die Frauen weniger sichtbar waren. Jetzt arbeiten hier Frauen mit Kopftuch als Lehrerinnen und Anwältinnen. Deswegen wird das diskutiert“, sagt er. „Populismus setzt bei den Ängsten der Menschen an. Das funktioniert. Doch ich glaube, Qualität wird sich letztlich durchsetzen.“ Er klingt zuversichtlich, und ich meine zu spüren, dass diese Hoffnung wichtig für ihn ist.
Als ich um die Alster zurückfahre, ist es dunkel geworden. Menschen kommen mir mit Stirnlampen entgegen, manche so hell, dass sie mich blenden, andere tauchen so unsichtbar aus dem Dunkel auf, dass ich fast mit ihnen zusammenstoße. Der Weg wird zum Parcours – und zu einem Bild für unser Gespräch. Für das Ringen um Sichtbarkeit. Solange wir alle aufeinander achten, passieren keine Unfälle.
Foto: Christa Pfafferott