erschienen in leicht geänderter Form in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 11.1.2019
Eine dünne Linie zieht sich durch die Stadt, ein Traditions-Geschäft nach dem anderen stirbt. Es ist, als würde eine Reihe Dominosteine umkippen. Fenster werden verklebt und Türen verrammelt. Menschen hören mit etwas auf, das ihr Leben war. Geballte Energie von Zeit verpufft und Hingabe. Es schmerzt, wie still das geht, wie schnell die Spur von Zeit verwischt. Familienbetriebe, älter als ein Menschenleben, getragen durch Generationen und Jahrhunderte sind plötzlich fort, als wäre das immer so gewesen, dabei waren sie doch immer da.
Im vergangenen Sommer machte das älteste Schuhgeschäft auf der Hamburger Reeperbahn zu: 173 Jahre Tradition. Am letzten Abend gab es Schuhe zum Schnäppchenpreis, Musik und Sekt. „Stößchen“ auf eine Zeit, die leuchtete. Jetzt ist der Laden dunkel.Einen knappen Kilometer weiter die Straße runter Richtung Altona schließt nun nach 164 Jahren das Eckgeschäft mit „Berufsbekleidung und Übergrößen für schwergewichtige Männer seit 1854“. „Dick mit Chic“ steht noch am Schaufenster. Die Schilder „Geschäftsaufgabe“ waren Monate im Fenster. Es wirkte, als brauche dieser Abschied Zeit. Ein Ende ist schwer, vor allem, wenn es ein Erbe ist.
Eine Familie führte das Geschäft, war spezialisiert: Im Erdgeschoss gab es Kleidung für übergewichtige Herren, im Keller Berufskleidung. Zimmermänner auf der Walz kauften hier Schlaghosen, es gab Kleidung für Köche und Ärzte. Im Fenster zwischen den Schaufensterpuppen lag manchmal ein Dackel.
Ein Geschäft, das ich zu seinen Lebzeiten nicht betreten habe, und in dem ich ausgerechnet jetzt am Ende stehe. Ich helfe einer Freundin, eine alte Kommode aus dem Keller hinaufzutragen, die sie kauft, um damit etwas Neues anzufangen. Man merkt der Einrichtung des Ladens noch den Versuch an, mit der Zeit zu gehen. Aber immer nah dran an der Zeit sein ist anstrengend. Irgendwann schafft die Zeit die Läden, wenn sie sich nicht ständig erneuern oder genau die Tradition und Nostalgie zur Marke stilisieren.
In den Regalen fallen mir Arbeitshosen auf. „Warte“, sagt eine der beiden Schwestern, die im Laden arbeiten. „Ich suche dir deine Größe raus.“ Sie schaut meinen Körper an, ein kurzer musternder Blick, nicht unangenehm. Eher so, wie ein Bäcker einen Teig in die Hände bekommt, ein Mechaniker ein Werkzeug aufnimmt, ein Musiker sein Instrument. Klick. Ihr Material, mit dem sie umgehen kann. Ein sicherer Griff ins Regal. Für einen kurzen Moment sehe ich diesen schönen Ausdruck, wenn Menschen ganz bei sich sind, das tun, was sie können. Sie zieht eine Hose heraus. Ein Versuch. Ich gehe damit in die Garderobe. Sie passt. Als ich hinter dem Vorhang hervortrete, trifft mich wieder dieser angenehme, neutrale Blick: „Ja, das passt“, sagt sie sachlich. „Das passt genau“, sage ich. Sie hebt die Schultern, lächelt still: „Erfahrung“.
Auf einmal wird mir bewusst, dass ich eine der letzten Kundinnen bin, die das hier erleben, Beratung auf den Punkt. Die Verkäuferin kann das: Körper durchschauen. Das Maß der Menschen erkennen, ihre wirkliche Größe, ihnen ersparen, vieles anprobieren zu müssen bis etwas passt.
Oben an der Kasse legt mir der Verkäufer in spezieller Falttechnik die Hose zusammen. Kante auf Kante. Er erzählt von alter Zeit, von Ehefrauen, die mit ihren schwergewichtigen Männern in den Laden kamen, der Tonfall auch manchmal ruppig, wenn sie präsentierten, was sie in der Umkleide anprobierten. Manchmal wären die Männer dann noch einmal allein gekommen, für den neutralen Blick hier.
Als mir der Verkäufer die Tüte überreicht, fühle ich mich beklommen, als würde ich kein Kleidungsstück mitnehmen, sondern ein Souvenir: Was passiert denn jetzt mit all dem Wissen? Und mit dem Besonderen hier, was nicht zu greifen ist, der Seele? Was bleibt von alledem?
„Es ist traurig, wenn das Alte geht. Auf der anderen Seite kommt doch nur so Platz für das Neue“, sagt meine Freundin. „Man muss halt schauen, dass das, was kommt, gut ist.“ Vielleicht hat sie recht. Die Kommode steht jetzt nicht mehr im Keller des Geschäfts an der Reeperbahn, sondern in ihrem neuen Atelier. Dort bleibt sie noch in Erinnerung und gleichzeitig ist sie jetzt schon etwas Neues.
Foto: Christa Pfafferott