erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 30.10.2020

Die Kraft des Gegners nutzen, heißt es im Kampfsport. Ich hätte die Kraft umleiten sollen, gegen ihn selbst. Mein Herz klopft. Ich spüre Wut. Was ist gerade bloß passiert? Hätte ich doch. Wäre er nicht. Nein. Es ist passiert.

Rewind: Ich fahre auf dem Rad zu einem Termin. Dicht neben mir auf der Straße fahren Autos. Dann: ein Hindernis. Ein Müllauto steht vor mir auf der Straße, daneben ist eine Baustelle. Ich kann nicht ausweichen, ich würde in die Gegenspur geraten. Ich fahre auf den Gehweg und verlangsame. An den Gehsteig grenzt eine Konditorei. Menschen warten dort bis heraus zum Bürgersteig. Ein älterer Mann ist der Letzte in der Reihe. Er trägt eine grüne Barbourjacke, edle Slipper-Schuhe, auf der Stirn hat er ein einzelnes Pflaster kleben.

Mit funkelndem Blick baut er sich mir gegenüber auf: „Ihr jungen Leute“, sagt er, „ihr macht einfach, was ihr wollt.“

Ich versuche, ruhig zu bleiben. „Ich fahre sofort vom Gehsteig, wenn sie mich vorbeilassen“, sage ich und zeige zur Seite, wo der Bürgersteig abgesenkt ist.

Er bleibt vor mir stehen. „Sie dürfen hier nicht fahren.“

„Schauen Sie doch, was dort ist.“ Ich zeige zum Müllauto, der Baustelle. Aber er sieht nicht hin. Er will gar nicht, dass ich möglichst schnell runter bin vom Gehsteig. Er will, dass ich ihn höre. Er will gesehen werden, etwas in mir ändern. Es geht um die Regel, die ich überfahren habe. Er weiß, er hat Recht. Ja. Ich darf hier nicht sein mit dem Rad, egal wie gefährlich die Straße ist.

„Sie dürfen das nicht!“ Sein Ton wird lauter. Jetzt kippt die Situation. Moment…

Pause: Was hat er noch mal gesagt? Ganz am Anfang? Ja: „Ihr jungen Leute.“

„Junge Leute?“ Er hält mich für jung. Dabei gehöre ich vom Alter nicht mehr zu den sogenannten jungen Leuten, die so oft von den älteren als ungehörig dargestellt werden. Die sich angeblich verantwortungslos alle Freiheiten herausnehmen. Weil ich die Regel breche, muss ich jung sein. Das ist eine Diskriminierung der Jungen. Aber in diesem Satz lag auch die Kraft, die ich hätte nutzen können: „Ihr jungen Leute.“

„Danke für das Kompliment“, hätte ich rufen können. Seine negative Energie positiv umleiten. Ihn anlächeln. Aus seinem Vorwurf ein Kompliment machen. „Jung. Wie nett von Ihnen“ – eine lockere Judorolle, maximale Wirkung bei minimalem Aufwand.

Ich bin die Lokführerin im Führerhaus, vor der sich die Schienen teilen. Ich kann meine Spur wählen. So wie er etwas in mir sehen will, suche ich mir aus, was ich von ihm wahrnehmen möchte. Im Einkaufsladen nehme ich ja auch nicht alles, was mir angeboten wird. Die Stimmung des anderen muss mich nicht bestimmen. Doch unsere Situation ging weiter.

Play: „Wenn Sie jetzt zur Seite rücken, fahre ich sofort vom Gehsteig.“

Der Mann krakeelt. Ich fahre vorbei. Er ruft mir hinterher. Er hat verloren, ich habe verloren

Der Mann schaut mich wütend an. Mit seinem Pflaster auf der Stirn sieht er aus, als komme er bereits aus einem Kampf. Unmerklich, nur ein paar Zentimeter, rückt er an mich heran. Ich spüre seine Aggression. Er sieht aus, als wolle er mich gleich schlagen. Eine Frau in der Schlange schaut uns zu. Sie wirkt irritiert, aber nicht involviert. Sie wird mir nicht helfen, wenn er jetzt zuschlägt, denke ich.

Die Schlagkraft des anderen nutzen. Die negative Energie zurückstoßen. „Siegen durch Nachgeben.“ Der Mann krakeelt. Ich mache einen Schlenker um ihn herum, fahre vorbei und zurück auf die Straße. Er ruft mir hinterher. Er hat verloren, ich habe verloren. Er ist wütend, ich bin wütend.

Forward: Ich sitze auf dem Rad. Noch Minuten später sitzt der Mann in meinem Kopf: Warum ist er so zornig? Ich versuche die Gedanken an ihn loszulassen. Weiter…

Play: Die Weiter-Taste bedeutet im Englischen gleichzeitig Spielen. Das Leben ist kein Kampf. Das Leben ist auch ein Spiel. Wir müssen nicht verhärten, wenn es um uns härter wird. Wir bestimmen unsere Möglichkeit.

Foto (Sybolbild): Christa Pfafferott

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