erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 11.12.2022
Vergangene Woche im ICE. Ein Mittwoch im November. Berlin bis Hamburg. Ruhewagen, 2. Klasse. Weite Felder rauschen vorbei. Jenseits des Gangs liest ein Mann stoisch in einem Buch. Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“.
Als die Zugbegleiterin kommt, zeigt er einen ausgedruckten Fahrschein. Sein Handy ist ein neues, funktional sehr eingeschränktes, ohne Wischoption, mit Tasten. Er scheint sich bewusst für ein analoges Leben entschieden zu haben. Um uns ist es ruhig, nur der Zug rauscht. Winterstimmung.
Dann taucht im Gang plötzlich Dirk von Lowtzow vor mir auf. Ich erkenne ihn sofort. Er ist der Sänger von Tocotronic.
Seit 20 Jahren begleitet mich ihre Musik. Ich habe sie mit ihrem „Weißen Album“ entdeckt, zwischendurch verloren und wieder neu gefunden. Viele ihrer Texte kenne ich auswendig. Im Sommer war ich im Stadtpark auf einem Tocotronic-Konzert. Die Band hat sich in Hamburg gegründet, wurde hier geprägt und ist dann nach Berlin gezogen.
Mit grauem Haar und schwarzem Jackett läuft Dirk von Lowtzow an mir vorbei. Ein unwirklicher Moment, in dem sich die Begleitstimme mancher Lebensszenen plötzlich im Alltag personalisiert. Die Schiebetür zum Flur gleitet hinter meinem Rücken auf. Dann ist er fort.
Ich freue mich, dass er so plötzlich da war. Ich muss an sein Lied „Unwiederbringlich“ denken. Darin singt Dirk von Lowtzow: „Du lagst im Krankenzimmer. Ich saß im ICE. Auf dem Weg nach Hause. Durch Felder voller Schnee.“ Er erzählt von einer Zugfahrt, in einer Zeit noch ohne Handys, als das Ich im Song daher erst beim Aussteigen vom Tod eines Nächsten erfuhr.
Ich logge mich ins Internet ein und höre noch mal das Lied, lausche der vertrauten Stimme des eigentlich Fremden wenige Meter hinter mir: „Ich saß im ICE.“ „Es gab noch keine Handys. Es war alles Gegenwart. Die Zukunft fand ausschließlich in Science-Fiction-Filmen statt.“
„Es war alles Gegenwart.“ Was für ein schöner Satz. Da die Band schon so lange existiert, schlägt sie eine Brücke zwischen meiner Vergangenheit und Gegenwart. Durch alles, was sich ändert – sie blieb Gegenwart.
Ein Zischen: Die Schiebetür gleitet wieder auf. Jetzt läuft Arne Zank, der Schlagzeuger der Band, an mir vorbei. Was machen sie hier zusammen im Zug? Haben sie etwa ein Konzert in Hamburg?
Ich suche im Internet nach den Live-Terminen von Tocotronic. Tatsächlich, an diesem Tag geben sie abends ein Konzert auf Kampnagel. Es ist ausverkauft.
Als der Zug den Hamburger Hauptbahnhof erreicht, treten Dirk und Arne als eine der letzten aus ihrem Abteil in den Flur.
Dirk von Lowtzow schaut mich ausdruckslos an. Wir warten zusammen. Es sind die Sekunden der Leere, wenn Menschen vor den Türen auf den Halt des Zugs warten. Ich überlege, ob ich etwas sagen soll: Eure Musik begleitet mich. Danke! Ihr habt mich geprägt. Einer ihrer Liedtitel geht mir durch den Kopf: „Pure Vernunft darf niemals siegen.“ Doch etwas hält mich davon ab, mich als Fan zu zeigen.
Ist es, weil wir nicht allein sind, weil der Mann mit dem analogen Leben neben uns steht? Oder ist es aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre? Dass sie die Ankunft in Hamburg nicht bereits direkt als öffentliche Person begehen müssen? Dass sie still und unauffällig in diese Stadt schlüpfen dürfen? Oder bin ich in dem Moment zu schüchtern.
Wir steigen aus. Dirk und Arne laufen vor mir über den Bahnsteig, ruhig und selbstverständlich nebeneinander, zwei, die sich kennen. Sie nehmen die Treppe zur Bahnhofshalle hinauf, treten hinaus ins graue Novemberlicht. Unauffällig. Zwei zwischen vielen. In sieben Stunden werden sie vor einer ausverkauften Halle stehen. Dann sind sie fort. Unwiederbringlich.
Tage später lese ich von ihrem Konzert: Die stillen Mitreisenden aus dem ICE starteten es mit dem Song „Nie wieder Krieg“ und einer deutlichen Stellungnahme, mit der sie „Solidarität mit den Opfern“ des Ukraine-Krieges forderten. Wider der Unwiederbringlichkeit.