erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 12.11.2021

Das bin ich. Es ist einer dieser seltenen Augenblicke. Ich halte inne. Ich habe den Moment erlebt, mich nicht sofort als mich zu erkennen. Ich bin an einem großen Schaufenster vorbeigegangen und habe mich in der Spiegelung nicht gleich erkannt. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich selbst eine andere. Die mit einer bestimmten Frisur, Kleidung, einem Ausdruck. Ein kurzer dissoziativer Moment, der noch nicht einmal eine Sekunde hielt.

Vor Jahren als Kind habe ich ihn schon einmal erlebt. Für kurze Zeit rutscht die Welt. Die Konstante, um die sich alles dreht, mein Blick von innen nach außen, als Subjekt auf das andere, dreht sich um. Ich schaue als Fremde auf mich. Die da in der Spiegelung gleitet als eine der unbekannten Menschen der Stadt an mir vorbei: ein anderes Leben.

Dann sofort stellt sich die Perspektive wieder um. Das da im Fenster bin ich. Alles wie immer – ich schaue von mir heraus auf die Welt: Es ist unmöglich, aus der eigenen Perspektive auszubrechen, ein anderes Ich als das eigene zu sein. Man kann sich noch so sehr in Menschen hineinfühlen. Die Mannigfaltigkeit des Denkens und Fühlens ist nur auf sich selbst zurückgeworfen erfahrbar.

Ich laufe durch den Leipziger Hauptbahnhof. Nach einem Arbeitstermin bleibt mir noch Zeit, bis mein Zug nach Hause fährt. In Sachsen wurde gerade die 2G-Regel eingeführt. Genesen oder geimpft. Nur mit Antikörper-Nachweis darf man in Restaurants oder zu Veranstaltungen. Überall an den Cafés sind schon die Schilder angebracht: 2G. Ein Code, der Zugänge neu regelt.

Ich laufe durch die Einkaufs-Ebenen des Bahnhofs und komme an einer langen Schlange Menschen vorbei. Sie stehen vor einem Impfzentrum an. Die Schlange war mir schon bei meinem letzten Besuch hier aufgefallen, als die Impfzahlen stagnierten. Es gibt ja doch viele Menschen, die sich noch impfen lassen wollen, dachte ich damals. Jetzt ist die Schlange noch länger. Ich gehe langsam daran vorbei:

Ein junger Mann mit Kopfhörern, eine schwarzgekleidete ältere Dame, Paare, ganz unterschiedliche Menschen warten hier. Ich schaue sie an: Warum lassen sie sich wohl gerade jetzt impfen? Schon seit Langem ist es ja einfach, einen Impftermin zu bekommen. Liegt es jetzt daran, dass die Infektionszahlen steigen und diese Menschen Angst davor haben, sich anzustecken? Oder ist die Schlange so lang wegen 2G? Stehen hier Menschen, die sich eigentlich nicht impfen lassen wollen und sich jetzt in die Schlange eingefügt haben?

Ich überlege, wie das sein muss. Wie man auch immer zum Impfen stehen mag, was für ein Gefühl muss das sein zu sagen, okay, zu diesem Zeitpunkt gebe ich nach. Die Leute in der Schlange schauen vor sich hin. Ich denke, was alles in ihnen ablaufen muss, wie viele Gedanken, Entscheidungen sich in jeder dieser Köpfe wälzt. Die Menschen in der Schlange sind alle das Andere, das ich für einen Moment von mir in der Schaufensterscheibe sah. Und gleichzeitig sind sie alle ein komplexes Ich.

Ich habe in den letzten Tagen Sprachaufnahmen für einen Dokumentarfilm von mir gemacht. Auch im Studio aus den Boxen klingt die eigene Stimme wie eine fremde. Bei Tonaufnahmen über sich staunen viele Menschen darüber, wie anders sie klingen. Als wäre zwischen dem Ich und dem Außen ein Raum, eine erstaunliche fremde Landschaft. Wieder so ein Moment, in dem man sich selbst als ein anderes Objekt erlebt: ein Staunen. Das also bin ich.

Genauso wie in Momenten, in den ich anders reagiere als erwartet. Oder in den langen Zeitspannen, in denen sich um das Ich Ringe legen, es wandeln, weiterziehen lassen und man sich selbst schließlich als neu entwickelt sieht. Die Ent-Täuschung, die man bei anderen erlebt, von denen man sich immer ein Bild macht, auch bei sich zu erleben. Das also bist du. Das also bin ich.

Wie können wir meinen, die anderen zu kennen? Die, die genauso oder anders über das Impfen denken, Politik, Musik, Ernährung. Wenn wir uns doch selbst nicht kennen. Was dann aber stimmt? Wer sind wir und an was können wir uns festhalten? Vielleicht daran, es nicht zu wissen. Dass, so wie die Zeit fließt, auch das Ich und die anderen immer ein Moment sind. Ein Vielleicht.

Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott

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