erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 17.9.2021
Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus einem Land, das lange zögert, eh es untergeht.“Ich kenne es immer noch, das Gedicht, das ich in der Schule zur Strafe auswendig lernen musste. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht bei meiner strengen Deutschlehrerin. Noch heute spüre ich die Empörung von damals, dass ich das Gedicht frei vor der Klasse aufsagen musste. „Das Karussell“ von Rainer Maria Rilke. Es gefiel mir eigentlich damals schon gut in seiner fließenden Sprache.
„Zwar manche sind an Wagen angespannt. Doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant.“ Verse, die mir heute in den Kopf kommen, wenn ich im Park bin, ein Karussell sehe. Es ist schön, dass mich das Gedicht nun seit vielen Jahren begleitet. Gedichte sind wie eine andere Sprache, ein neuer Zugang zur Welt. Wenn einem zu einem Erlebnis ein Gedicht einfällt, ist es, als könnte man es in einer neuen und klaren Form betrachten.
Dieses Jahr habe ich die Dreharbeiten zu einem Film abgeschlossen, bei dem ich auch mit vielen älteren Menschen zusammenkam.
Was sich durch den Dreh gezogen hat, waren die Gedichte und Lieder, die die Menschen auswendig konnten. Sie blitzten auf in ihrem Sprechen. Auf einmal war da ein Reim, eine Melodie, die sich in unsere Gespräche einfand.
Eine ältere Dame filmte ich an ihrer Hoftür. Sie schaute versunken in den Himmel, dann lächelte sie verschmitzt in die Kamera: „Da gibt es auch so ein schönes Gedicht: Ihr meint, der Jäger sei ein Sünder, weil er nicht oft zur Kirche geht. Im grünen Wald ein Blick zum Himmel ist besser als ein falsch Gebet.“ Sie lachte wie ein junges Mädchen.
Wenn die älteren Menschen so plötzlich ein Gedicht sprachen, dann war es, als würde etwas in ihnen Klick machen, in eine vertraute Spurrinne einrasten. In ihren Augen blitzte es, ein glücklicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Die Gedichte und Lieder rührten oft an andere freche oder gefühlvolle Charakterseiten der Menschen. Sie waren wie ein innerer Spazierstock, mit dem sie sicher auftraten, etwas Neues von sich zeigten, an etwas Verschüttetes andockten. Die Gedichte hatten sich in ihnen eingebrannt wie Tätowierungen. Sie waren ein reicher Schatz in ihnen.
Die Texte bestanden oft aus vielen Strophen, unfassbar, wie sie sich das über so eine lange Zeit gemerkt haben konnten. Ich denke seitdem, wie gut es ist, sich mit voller Konzentration einer Sache zu widmen. Etwas auswendig zu lernen, um es inwendig in sich hineinzulassen. Die Gedichte der Menschen waren immer mit dem „langen Erinnern“ verbunden, wie ein Mann es nannte. Das „lange Erinnern“, das tief in die Kindheit hinabreicht und das auf wundersame Weise so lange Bestand hat. Anders als das kurze Erinnern, das im Alltag nötig ist, das manchen der älteren Menschen nicht immer mehr gut gelang. Auch in sozialen Medien steht das kurze Erinnern meist im Vordergrund. Dieses Wissen verweilt und arbeitet nicht in einem. Es ist wie schneller Zucker, der einen kurz befriedigt und dann wieder weggewischt ist.
Ich denke noch oft an die ältere Dame, die an Demenz erkrankt war und von ihrer Familie gepflegt wurde. Lange schaute sie still im Bett vor sich hin und begann dann auf einmal aus dem Nichts heraus zu singen: „Ich kenn ’nen alten Knacker und eine alte Frau. Die liebten sich gar innig, das weiß ich ganz genau. Bei diesen alten Leuten, da kehrt der Storch nicht ein, da muss wohl an der Leitung was nicht in Ordnung sein …“ Sie drehte sich zu mir und lachte vergnügt.
Es ist wie ein Zauber, aus welchen Tiefen diese Sätze auf einmal zu den Menschen fliegen, wie sie sich emporwinden in diesen Moment. Oft frage ich mich, wie man diese inneren Wissensschätze aufbewahren kann. Vielleicht filme ich sie deshalb. Ich habe den Drang, das zu archivieren, was heute kaum noch jemand in dieser Form in sich ansammelt.
Doch kann eine Filmaufnahme dem überhaupt gerecht werden? Vielleicht reicht es ja auch, dass die Gedichte in den Menschen sind, eine Art geistige Wirbelsäule, die sie ein Leben lang aufrichten und stützen. „Und dann und wann ein weißer Elefant.“
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott