erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 6.8.2021
Vor Kurzem war ich mit Freunden an der Ahr Rad fahren. Wir fuhren an Weinbergen vorbei, ließen Steine auf dem Flüsschen ditschen, hielten an einer Eisdiele. Es war ein glücklicher Tag. Das ist zwei Monate her. Jetzt ist über Nacht alles anders gekommen. Die Eisdiele ist überschwemmt, das Flüsschen hat eine acht Meter hohe Welle entwickelt. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli hat die Ahr die Region überflutet, Häuser niedergerissen. Menschen sind ertrunken, obdachlos geworden. Manche besitzen nur noch den Schlafanzug, den sie anhatten.
Ich besuche wieder meine Freunde und stehe jetzt in einem Katastrophengebiet. Wie viele dort frage ich mich: Wie kann das sein? Wie kann aus der kleinen Ahr diese Welle entstanden sein? Weit hinaus hat sie die Straßen und Häuser überspült. Der Boden ist braun, alles ist voll Schlamm, Schutt und Staub. Autos türmen sich übereinander, das Wasser hat sie einfach zusammengedrückt. Überall fahren Feuerwehrautos, das Martinshorn tönt. Es herrscht ständige Alarmstimmung.
Wir holen aus der Wohnung eines Freundes die Dinge, die wir tragen können, das Wasser hat das Erdgeschoss seines Miethauses überschwemmt, kurz vor seiner Wohnung ist es gestoppt. Doch er kann hier nicht bleiben. Das Haus ist voll Matsch, es gibt keinen Strom. Plünderer sind in den vergangenen Tagen gekommen und haben die Wohnungen der Menschen durchsucht, die alles verloren haben. Wir tragen Taschen hinaus, laufen damit an Häuserzeilen vorbei, an denen Menschen tapfer irgendetwas aufbauen. Viele haben in den letzten Tagen Schlammketten gebildet, den Schlamm in Eimern aus den Häusern getragen. Der Schlamm ist überall. Er dringt bis in die Träume. Er stinkt. Fäkalien und Chemikalien mischen sich in ihn hinein.
Und da ist die Linie.
Eine brauner Strich zieht sich an den Häusern entlang. Unter der Linie sind die Wände verschmiert. Die Linie ist ganz gerade, wie mit einem Lineal gezogen. Wie eine Narbe zeigt sie – dieses Haus ist betroffen. Bis hierhin kam das Wasser, da ging es nicht weiter. Eine unheimliche Erinnerung an eine Nacht, die keiner begreift und die fast jeden hier betrifft.
Niemand kann sich erklären, wie die Welle entstanden ist. Doch mit ihr ist in dieser Nacht das Gefühl einer selbstverständlich geglaubten Sicherheit verschwunden.
Wie konnte das so plötzlich geschehen? Wie kann so etwas verhindert werden? Die Politiker waren jetzt alle hier, haben sich in den ersten Tagen das Katastrophengebiet angesehen. Die Menschen, deren Haus eine Linie zeichnet, können nicht einfach gehen. An einem Tag trifft eine Freundin auf der Straße eine neunköpfige Familie, verschiedene Generationen. Sie konnten die ersten Nächte nach der Flut in einem Hotel übernachten, jetzt stehen sie buchstäblich auf der Straße, suchen eine Wohnung, groß genug für sie. Die Neun wollen nicht getrennt werden. Am Abend dann kommt die Nachricht, dass sie im Hotel bleiben können, erst einmal.
Während wir in diesen Tagen durch die Straßen laufen, muss ich immer wieder auf die Linie der Häuser blicken. Bis hierhin und nicht weiter, scheint sie zu erzählen. Dabei ist die Linie längst schon überschritten. Hier vor Ort zeigen sich mit den Ausuferungen eines schmalen Flüsschens ganz konkret die Konsequenzen des Klimawandels. Der Mensch unterschätzt die Natur: bis hierhin und nicht weiter.
In der Straße, die zum „Lebenshilfe-Haus“ in Sinzig führt, wo in der Flutnacht zwölf Bewohner ertrunken sind, hängt eine Vermisstenanzeige: Am 23. ist ein weißes Kaninchen entlaufen. Ein Stück Papier aus einer heilen Welt, in der ein Kaninchen vermisst wird – nicht mehr. „Folge dem weißen Kaninchen“, hört Neo im Film „Matrix“, er geht in eine andere Welt, ihm öffnen sich die Augen. Die Vermisstenanzeige hängt am Laternenpfahl wie ein Aufruf: Wo ist das weiße Kaninchen in unserer Welt? Wann öffnen sich unsere Augen? Unsere Welt steht Kopf. Suche nach dem weißen Kaninchen!
Foto: Christa Pfafferott