erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 19.10.2018
Ich sehe eine Frau und weiß, ich sehe sie wieder. Ein fremd vertrauter Mensch. Jemand aus meinem Alltag, der für mein Leben nicht wichtig ist. Sie steht da im Gewimmel eines Samstagnachmittags. Inmitten vieler Menschen ist sie für sich allein.
Ich sitze in der Buchhandlung der Europa-Passage auf einem Sofa. Hinter einer hohen Glasfront liegt der Jungfernstieg. Viele ruhen hier von der Stadt aus, schauen gedankenverloren nach draußen, dösen. Vor der Scheibe bewegt sich das Leben wie ein Stummfilm. Menschen, die in verschiedene Richtungen wollen, mit Sorgen und Wünschen. Einzelne Leben, die hier oben zur Menge verschwimmen.
Ich schaue zur Frau vor dem Bücherregal und überlege, woher ich sie kenne. Arbeitet sie im Drogeriemarkt? Im Amt, am Empfang eines der Gebäude, die ich oft betrete? Dann weiß ich es. Sie sitzt bei uns im Viertel im Supermarkt an der Kasse. Normalerweise kenne ich sie im Kittel, am Fließband. Hier wirkt es, als hätte sie jemand aus meiner gewohnten Ordnung herausgeschnitten und in ein anderes Bild gesetzt.
Sie steht vor dem Regal mit den Autoren, die mit P beginnen. In der Hand hält sie ein weißes Buch. Ganz versonnen schaut sie hinein, liest konzentriert. Ihre Augen huschen schnell über die Seiten, als wollte sie etwas auflesen.
Im Supermarkt arbeitet sie emsig, gibt alle Obstnummern aus dem Kopf in die Kasse ein. Vor Kurzem hat sie das „Kasse geschlossen“-Schild auf das Band gesetzt, als würde ihr plötzlich etwas zu viel. Sie sah älter aus, müde. Ihr Gesicht war blass, die Haare unfrisiert, kein „Schönen Tag Ihnen“ wie sonst immer. Als würde jedes zusätzliche Wort Energie rauben. Bitte, Danke, auf Wiedersehen.
„Du machst jetzt mal Pause“ rufen sich die Kassiererinnen manchmal zu, wenn sie merken, dass es der anderen nicht gut geht. Als wären sie Verbündete am Band. In der Filiale im Nachbarviertel können die Kunden jetzt selbst die Waren einscannen. Ich habe gedacht, wie das für die Kassiererin sein muss, austauschbar zu sein mit einer Maschine.
Jetzt steht sie hier. Es macht mich richtig froh, sie zu sehen. Ich möchte sie grüßen und weiß, dass ich das nicht darf. Das ist ihre Welt. Die, an der ich teilnehme, betritt sie für den Lohn der Kassiererin. Trotzdem stehe ich auf. Eine falsche Neugierde treibt mich an, nur kurz schauen zu wollen, was sie liest, welchen Autor mit P. Als könnte ich damit etwas entschlüsseln. Ich komme ihr langsam näher. Als hätte sie mich schon die ganze Zeit bemerkt, dreht sie sich auf einmal um, wendet mir ihr Gesicht aus dem Profil zu. Fast höre ich es klirren, als mein Gedankengebäude zusammenfällt.
Sie ist es nicht. Dort steht nur eine Frau, die ihr ähnlich sieht. Jemand, in den ich das alles hineingedacht habe. Ich bin enttäuscht. Irgendwie auch von ihr. Der Frau aus dem Supermarkt. Dass sie hier nicht steht. Dass es diese von ihr ausgedachte Version gar nicht gibt. Und ich wundere mich, warum ich an sie gedacht habe. Ein Fetzen Realität, der sich in die Welt der Literatur, der Fantasie geschoben hat. Warum habe ich sie so gesehen? Kein Scanner, kein Wechselgeld. Ein Buch.
In den nächsten Tagen im Supermarkt suche ich ihr Gesicht an den Kassen. Es fühlt sich fast an, als hätten wir etwas Gemeinsames erlebt, als würde ich sie nun näher kennen, obwohl es natürlich falsch ist. Nur weil wir viel über eine Person nachdenken, heißt es nicht, dass wir sie besser kennen. Und was sollte ich ihr auch sagen? „Ich habe gedacht, ich hätte sie in der Buchhandlung gesehen. Aber sie waren es nicht.“ Sätze, die sich zu nah anfühlen. Ich kann sie auch gar nicht ausprobieren. Seitdem ich die Kassiererin in der Buchhandlung gesehen habe, ist sie nicht mehr da. Zu keiner Schicht sitzt sie am Band. Irgendwann frage ich nach ihr, beschreibe sie verlegen, während die anderen Kunden am Band warten. „Ein paar sind gegangen“, sagt ihre Kollegin. „Warum?“ „Wegen Krankheit.“
Gehörte sie dazu? Ich weiß es nicht. Es ist, als wäre die Kassiererin noch ein letztes Mal aufgetaucht, bevor sie verschwindet. Ein Gruß, bevor da für sie vielleicht eine Maschine steht. Sie ist jetzt einfach fort.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott