erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 11.8.2023
Donnerstags, Mitternacht in der S-Bahn. Die Waggons rattern von Harburg über die Elbbrücken. Draußen ist schwarze Nacht. Die Elbe schwappt dunkel gegen den Uferrand. Die Menschen in der Bahn wirken müde.
Zwei junge Frauen, die eng nebeneinander sitzen, sind stark geschminkt und haben frisch gestylte Haare. Sie sind die Einzigen, die noch so aussehen, als würden sie zu etwas aufbrechen. Alle anderen scheinen nur noch heimkehren zu wollen. Verschwommen spiegeln sich die erschöpften Gesichter in den Fensterscheiben. Die Bahn, die durch das Dunkel gleitet, ist ausgeleuchtet durch grelles Neonlicht. Es ist anstrengend, das Licht zu ertragen, während sich innerlich schon die Nacht einleitet.
Da ist im Gang ein Schlurfen zu hören. Ein Geräusch, das sofort signalisiert, dass etwas nicht stimmt. Es entspricht nicht dem geschäftigen Laufen von S-Bahn-Passagieren. Es ist ein Schlurfen ohne Ziel. Ein Geräusch, das nicht in eine Bahn, sondern eher in einen Krankenhausflur, eine Psychiatrie passt. Es klingt nach einem Menschen, der sucht.
Ein junger Mann in grüner Khakihose und in kariertem Hemd schlurft vorbei. Seine Füße stecken in schwarzen Socken und in grauen Plastikschlappen. Die Kleidung des Mannes ist sauber. Doch er trägt keine Tasche, keine Jacke. Er läuft durch den Gang, als wäre er gerade von zu Hause, direkt aus dem Wohnzimmer in diese S-Bahn geschlüpft.
In der Mitte des Gangs dreht er sich auf einmal um, schlurft wieder nach vorn, als hätte er etwas vergessen. Abrupt streckt er plötzlich einem Mann seine leeren Hände entgegen. Der Mann schüttelt den Kopf.
Der Mann in den Schlappen flucht leise, dann schlurft er weiter durch den langen S-Bahn-Gang. Vor und zurück. Hin und her. Immer wieder hält er zwischendurch den Menschen seine offenen Hände entgegen. Eine unruhige Stimmung breitet sich aus, die Fahrgäste schielen zu ihm hin, blicken ihm nach. Es ist, als ob man nun wachsam sein müsse. Als ob etwas Unkontrollierbares passieren könnte, hier auf dieser Fahrt um Mitternacht.
Dann plötzlichein Schrei. Als der Mann an den zwei gestylten Frauen vorbei läuft, schreit die eine Frau, die nah am Gang sitzt, leise auf. Sie starrt auf den Ärmel ihrer künstlichen Lederjacke, auf dem ein schwacher Fleck zu sehen ist. „Bah“, sagt die Frau. Sie reibt über den Ärmel. Der schlurfende Mann bleibt für einen Moment vor ihr stehen. Dann geht er weiter.
„Der hat mich angesprüht“, sagt sie. „Oh, nee. Ich will nach Hause!“ Der Mann geht weiter, er hält nun einen großen Parfüm-Flakon in der Hand. Er wirkt wie eine Requisite, die auf einmal in seine Hand gekommen ist. „Boah, stinkt das“, sagt die Frau.
Ihre Freundin holt aus einer kleinen, eckigen Handtasche souverän einen riesigen rosafarbenen Flakon heraus. Es wirkt, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass hier scheinbar alle Menschen große Parfümflaschen mit sich führen. Sie spritzt auf den Jackenärmel ihrer Freundin, wo der Mann zuvor hingesprüht hat. Sie wirkt in diesem Moment wie die beste Freundin, die man haben kann, die allem, was einem passiert, sofort etwas entgegensetzen kann, wie eine Feuerwehrfrau.
Der Mann tigert währenddessen weiter den Gang entlang und sprüht mit seinem Parfüm um sich. In die Luft und direkt auf andere. Er nebelt alle ein. Die Menschen schütteln den Kopf. „Hier“, er bleibt vor einzelnen stehen, zeigt den Parfüm-Flakon: „Probier! Ich will nichts verkaufen.“
Das Abteil stinkt. Ein phenolischer, süßlich-herber Geruch breitet sich aus. Der Mann breitet sich aus. Er überschreitet die Grenze in den Nahbereich aller hinein. Er stinkt die Menschen an. Es hat etwas unsichtbar Machtvolles.
Es ist, als würde er bestäuben. Als hätte er eine Waffe, die niemand hinunterreißt. Sein Duft ist eine Form von Gewalt.
Dann erreicht die Bahn den Hauptbahnhof.
Als die Fahrt danach weitergeht, ist es ruhig.
Der Mann mit dem Parfüm scheint ausgestiegen zu sein. Sein Geruch bleibt.