erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 7.6.2019
Manchmal bekommt man etwas geschenkt. Einfach so. Ein Geschenk des Himmels. Oder eins der Erde. Bei mir war es ein Geschenk der Luft.
Wir tragen ein Schlauchboot zu „Bodos Bootssteg“ an der Alster. Auf dem Holzsteg über dem Wasser wollen wir das Boot aufpumpen. Ich habe es gebraucht im Internet gekauft: ein Schlauchboot mit drei Luftkammern und einer Pumpe. Es fasst drei Personen, 260 Kilogramm. An der Alster wird gleich das japanische Kirschblütenfest mit einem Feuerwerk gefeiert. Es ist ein lauer Abend. Viele Menschen sitzen am Ufer oder in Booten auf der Alster. Wir möchten unter Freunden mehrere Boote aneinander binden. In das hier muss nur noch Luft rein.
Die Leute, die hier sitzen, schauen zu, wie wir die schlaffe Gummihaut des Boots auf dem Steg ausbreiten. Die meisten von ihnen sind vornehm gekleidet. Sie trinken Sekt. Ein paar grinsen, vielleicht sehen sie, dass es Arbeit sein wird, dieses Boot aufzupumpen. Auf den Treppenstufen, die zum Steg führen, sitzt ein Paar. Die Frau lehnt sich in den Schoß des Mannes. Sie tragen beide Hörgeräte. Sie wirken nicht so teuer gekleidet wie die anderen hier auf dem Steg. Sie lachen uns an: „Wenn Ihr das aufgepumpt habt, ist das Feuerwerk vorbei.“
Wir stöpseln den Schlauch der Pumpe in die Öffnung der ersten Luftkammer. Der Schlauch ist zu schmal, die Luft entweicht. Ich bin enttäuscht, überlege, ob ich beim Internet-Kauf ausgetrickst wurde. In diesem Moment steht die Frau auf. Sie ist klein, vielleicht etwa 1,40 Meter groß. Tief in ihr Gesicht gezogen trägt sie eine alte Baselballkappe, als wollte sie etwas verstecken: „Ich kenn mich aus damit“, sagt sie. Sie klingt undeutlich. Dann beugt sie sich zum Boot. Sie hantiert an den Stöpseln. Ich frage mich kurz, ob sie etwas kaputt machen wird.
„Da muss ein Ventilring drauf“, sagt sie. „Habt ihr einen?“ In dem Beutel, den mir die Verkäufer mitgegeben haben, finde ich tatsächlich einen. Die Frau stöpselt das Ventil auf die Öffnung. Jetzt passt der Schlauch genau. Ich mache die ersten Züge mit der Pumpe. Sie ist alt und quietscht laut. Langsam fließt die Luft ins Boot. Es ist anstrengend. Das Boot liegt da wie eine Aufgabe.
„Ich mach das“, sagt da die Frau auf einmal. Sie stellt sich aufrecht an die Pumpe, schiebt den Hebel hinauf und hinunter. Sie pumpt und pumpt. Ohne Unterbrechung klingt das Quietschen über den Steg. Wir beugen uns zu ihr. „Sollen wir mal ablösen?“ Sie reagiert nicht. Sie pumpt weiter, als müsste das so sein. Als wäre es ihre Aufgabe, das Boot voll zu bekommen. Ihr Mann lächelt und schüttelt den Kopf.
Mittlerweile schauen fast alle Menschen auf dem Steg auf die kleine pumpende Frau. Ich frage mich, woher sie diese Kraft hat, diese unglaubliche Energie. Ich habe es ja eben ausprobiert. Das Aufpumpen ist schwer. Sie arbeitet so emsig wie eine Marathonläuferin. Nach der ersten Kammer pumpt sie die zweite und dann die dritte voll. Als gäbe es keine Alternative bis zum Ziel. Dann liegt das Boot voll und prall vor uns: Ihr Werk. „Danke“, sagen wir. „Ja, ich kenne mich aus damit“, sagt sie. „Ich hatte mal eine Luftmatratze“, als würde das alles erklären.
Ich schaue sie an und überlege, ob sie vielleicht einmal ohne feste Bleibe war, ob sie deswegen viel auf einer Luftmatratze geschlafen hat. Und dann frage ich mich, warum ich das denke, warum ich sie nicht einfach als das nehme, was sie ist. Ein Geschenk des Himmels. Ob sie später auch mal ins Boot wolle? Sie lächelt nur und setzt sich zu ihrem Mann zurück. Sie scheint nichts zu wollen. Sie hat es einfach so getan.
Dann lassen wir das Boot auf das Wasser und klettern vorsichtig hinein. Es hält. Die Luft der Frau trägt uns im Wasser. Wir schwimmen durch ihre Kraft. Mir wird klar, dass wir das Boot ohne das Wissen der Frau gar nicht rechtzeitig aufgebaut hätten. Jetzt schaukeln wir auf dem Wasser. Um uns sind andere Menschen mit Booten. Sie lachen, einer spielt Gitarre. Es dämmert. Wir knoten die Boote aneinander. Über uns leuchtet der Himmel.