erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 24.1.2020
Der Tag ist bedeckt mit grauem Himmel. Die Möwen fliegen tief. Ich merke, dass ich zum Arbeiten mein Ladekabel vergessen habe und fahre mittags zurück nach Hause, um es zu holen. Eine unnötige Unterbrechung der Aufgaben. Es ist ein Tag, an dem einem die Zeit davonzulaufen scheint und man hinter ihr herjagt, ohne sie zu fassen zu kriegen. Manchmal ist es an solchen Tagen gut, kurz stillzuhalten, um mit der Zeit einen neuen Anfang zu finden.
Abrupt halte ich mit dem Rad. Mitten auf dem Bürgersteig steht ein kleiner, feiner Sekretär aus Holz. Daneben zerren Arbeiter volle Müllsäcke aus einem Haus und hieven sie auf einen Laster.
„Gehört der Sekretär Ihnen?“, frage ich. „Wir werfen ihn weg. Wir räumen eine Wohnung aus. Du kannst ihn haben.“ Der Sekretär steht auf dem Bürgersteig, als hätten die Männer bei ihm innegehalten, weil man ihn nicht einfach auf einen Wagen werfen kann. Der Sekretär ist wunderschön. Aus feinem Kirschbaumholz mit hellen Verzierungen. Ich spüre, wie etwas klickt. Die Zeit steht still.
Der Sekretär ist mein Wunsch: In den letzten Tagen habe ich oft daran gedacht, mir einen Schubladen-Container zu kaufen, etwas, um die Dinge auf dem Schreibtisch zu verstauen. Doch ich habe damit abgewartet, ohne zu wissen, warum. Jetzt steht mein Wunsch wie wahr geworden auf dem Bürgersteig, schöner, als ich es mir hätte vorstellen können. Der Psychiater Carl Gustav Jung nannte es „Synchronizität“, wenn innere Ideen oder Träume auf einmal mit äußeren Ereignissen zusammenzufallen scheinen. Es kommt mir vor, als würde ich das gerade erleben. Klick.
Einer der Männer öffnet eine kleine Schublade im Sekretär. Darin liegt ein Schlüssel für die Lade, die beim Öffnen zu einer Schreibunterlage wird. Der Schlüsselgriff ist zerbrochen. „Du kannst ihn herrichten lassen, dann lässt sich die Lade abschließen“, sagt er. „Aber wem gehört denn der Sekretär? Ist hier jemand gestorben?“, frage ich. „Das ist von einer alten Dame, die ins Heim kommt.“ „Aber würde sie es wollen, dass ich ihn mitnehme?“ Die Männer zucken mit den Schultern. Diese Frage können sie mir nicht beantworten: „Wenn du ihn nicht nimmst, werfen wir ihn weg.“
Eine Schublade im Sekretär fehlt. „Die muss es noch geben.“ Die Männer suchen nach ihr, als wollten sie, dass es mit dem Sekretär weitergeht. „Da!“ Die Schublade passt. Der Sekretär ist komplett. Es liegt nun an mir, ob ich den Mut habe, ihn mir zum Geschenk zu machen. Die Frau kann ich nicht mehr um Erlaubnis fragen. Ich hole zu Hause einen Rollwagen, ich gehe zurück. Die Arbeiter helfen mir beim Aufladen.
Am Abend putze ich den Sekretär. Als er sauber ist, poliere ich ihn mit Möbelpolitur. Je länger ich am Sekretär arbeite, desto mehr eigne ich ihn mir an. Ich denke an den Wert von Besitz. An all die Dinge der Frau, die jetzt auf dem Müll liegen. Dass ihr Sekretär nun weiterlebt, auch wenn sie das nicht mehr entschieden hat. Dass wir alle vielleicht manchmal etwas weitergeben, ohne davon zu wissen. Ein beruhigendes Gefühl.
Den zerbrochenen Schlüssel bringe ich zu einem Schlüsseldienst. Als ich ihn zum verabredeten Zeitpunkt wieder holen will, ist niemand da. Ich muss später noch einmal kommen. „Waren Sie böse auf mich?“, fragt der Mann und gibt mir den Schlüssel, ohne hervorzuheben, was er da geschaffen hat. Die Schlüsselstücke konnte er nicht zusammenfügen. Er hat einen neuen Messingschlüssel angefertigt. „Wenn er nicht passt, kommen Sie zurück. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“ Wie viele Menschen jetzt schon in dieses Möbelstück involviert sind. Wie alle etwas Kleines können, das sich ineinander fügt.
Zu Hause probiere ich den Schlüssel aus. Er passt perfekt. Der Sekretär steht nun da. Glänzend. Vollkommen. Ein unglaubliches Geschenk. Ich spüre Dankbarkeit. Gegenüber der Dame. Gegenüber den Arbeitern, die den Sekretär auf den Bürgersteig gestellt haben, so dass ihn jemand sieht. Gegenüber dem Leben, das einem unverhofft ein Geschenk macht. Das vielleicht jeden Tag die Frage stellt, welches Geschenk wir uns trauen anzunehmen.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott