erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 17.12.2021
Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen. Aber wenige erinnern sich daran – aus dem Kleinen Prinzen.“ Anfang dieses Jahres erreichten mich diese Zeilen. Ein Leser oder eine Leserin hatte sie für mich an die taz-Redaktion geschickt, ohne Absender. Ein längliches, dickes Stück Papier, darauf eine Zeichnung: Sie zeigt eine Kugel, vielleicht eine Weltkugel, darauf Stühle, die aufeinandergetürmt eine wacklige Leiter ergeben. Ganz oben auf ihnen sitzt eine Person mit einem Zylinder auf einem Einrad. Sie streckt ihre Hände zum Mond aus. Auf der Rückseite der Zeichnung stehen die Worte des kleinen Prinzen und die Zeilen „wieder einmal sage ich Danke für die Kolumne am 22. 1. aus der taz“.
Ich hatte in dieser Kolumne über Kinder geschrieben und den Zauber, den sie in einem Park fanden. Es war ein Text, bei dem ich selbst noch vorsichtig in das neue Jahr wie auf eine zerbrechliche Eisfläche getreten war. Ich wusste nicht, welches Echo ich damit erziele. Und dann erreichte mich später dieses Kunstwerk dazu: ein Geschenk. Ich hätte mich gern bedankt. Doch es gab keinen Namen, keine Adresse, keine Möglichkeit. Da hatte mir einfach jemand eine Freude machen wollen.
Seitdem hängt die Zeichnung bei mir an der Wand: Der Mensch, der sich eine Leiter zum Mond baut. Das Bild hat etwas Zerbrechliches und Leichtes, etwas Zuversichtliches, Traumwandlerisches. Und vielleicht auch gerade, weil es ohne Absender kam, ohne einen Namen, weil es sich an keine Bedingung knüpfte, keinen Dank, kein Lob erwartete, hat es so einen Zauber. Es ist auch ein Symbol für den Zauber, der uns umgibt. Dass Menschen an uns denken, uns in vielerlei Hinsicht lesen, von denen wir oft nicht wissen.
Vielleicht wollte auch die Person, die mir schrieb, ihre Wirkung im Unsichtbaren lassen. Doch ich möchte auf diesem Weg ein Danke wagen. Einmal soll mein Text nicht nur von Menschen erzählen, die ich treffe, sondern von den Menschen, die ich in meinen Gedanken treffe. Beim Schreiben: die Leserinnen und Leser. Ich freue mich jedes Mal, wenn Menschen mir zu meinen Texten schreiben. Es ist, als würde mir jemand zurückwinken. Es gibt Energie, von denen zu erfahren, die meine Texte lesen. Sie erzählen wie eine sichtbare Spitze von den anderen, von denen ich nicht weiß.
Es ist schon einige Zeit her, da war ich in den Bücherhallen. Ich hatte recht viel Gepäck dabei und meinen Fahrradhelm in der Hand. Ich trat zu der Mitarbeiterin am Tresen, weil ich Fragen zu einer Ausleihe hatte. Sie las meinen Namen auf dem Benutzerausweis, stutzte und meinte, dass ich den gleichen Namen wie jemand hätte. „Wie wer denn?“, fragte ich. „Eine Autorin aus der taz.“ Sie schaute mich an. „Aber das ist jemand anderes.“ Sie schien so sicher, dass ich das nicht sein könne, dass ich fast überlegte, ihr diese Vorstellung von mir zu lassen.
Aber ich wollte auch ehrlich sein: „Doch, das bin ich“, sagte ich. Die Mitarbeiterin war erstaunt. Sie hatte in diesem Moment nicht mit mir als Autorin gerechnet, und ich nicht mit ihr als Leserin. Und wenn Sie das jetzt lesen sollten, hoffe ich, dass es für Sie in Ordnung ist, dass ich davon schreibe.
Die Begegnung machte mir wieder bewusst, dass wir oft mit unserem Wirken eine Wirkung haben, die uns nicht immer deutlich ist. Das gilt nicht nur für die, die schreiben, auch für die, die unterrichten oder die Züge fahren, die spazieren gehen, die lesen. Oft wirken wir damit im Unsichtbaren mehr als wir denken.
Mein Dank geht auch an die stillen Leserinnen und Leser. Dafür, dass Sie an den Texten teilnehmen, sich damit auseinandersetzen, dem Text durch ihr Lesen Leben geben. Auch das prägt den Text mit. Dieses Empfangen. Ich möchte mich vor der Weihnachtspause für dieses Jahr bedanken. Für das, womit sie durch Ihr Lesen einen Unterschied gemacht haben. Und für das, was ich von Ihnen gelesen habe. „Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen. Aber wenige erinnern sich daran.“
Foto: Christa Pfafferott