Text: Christa Pfafferott
Er sieht so vertraut aus, als wäre er aus einem seiner über 70 Filme geklettert. Er steht in der Osthalle des Leipziger Hauptbahnhofs, schaut nach oben zu den Menschen. Sie sitzen auf den kalten Stufen der Bahnhofstreppe, auf Stuhlreihen. Hunderte sind gekommen, haben sich in Anoraks seinen neuen Film angesehen über Michail Gorbatschow und dessen Ära, in der er auch der Wiedervereinigung zustimmte. Der Film zeigt die Montagsdemonstrationen in Leipzig vor der Wende. Wie sich Geschichte ereignete. Durch mächtige Menschen und viele einzelne, die sich zusammentun.
„Es ist für mich besonders, den Film hier in Leipzig zu zeigen, wo die Wiedervereinigung begann“, sagt Werner Herzog. „Die Wiedervereinigung ist für mich sehr wichtig.“ Die Menschen im Publikum schauen Werner Herzog stumm an. Es ist eine kostenlose Vorführung, frei für alle, die einen Platz ergattert haben. Alte und Junge sind hier, Leipziger, Menschen, die den Fall der Mauer miterlebt haben müssen, die vielleicht selber Montags auf den Straßen liefen. Die erlebt haben, wovon Herzog spricht.
Werner Herzog scheint das zu spüren: Die Geschichte inmitten all der unbekannten Gesichter. Er schaut nach vorne, still, als hätte er vor etwas Respekt. Er sagt einen Satz, kaum zu glauben, aber schön: „Ich war an sehr vielen Orten der Welt, aber nirgendwo habe ich so eine schöne Vorführung erlebt wie hier.“ Dann muss er weg. In den Cinestar, wo sich die akkreditierten Zuschauer auf roten Sesseln seinen Film ansehen. Und man meint zu spüren, er bliebe lieber hier. Am Bahnhof.
„Es geht um die Seele der Menschen“, sagt er am nächsten Morgen bei einem Film-Gespräch beim Dokfestival Leipzig. Er spricht vor großem Publikum über das Filmemachen. Es sind vor allem junge Leute gekommen, Menschen, die selber Filme drehen. Für die Werner Herzog eine Inspiration ist, einer, der Spielfilme und Dokumentarfilme macht, sich scheinbar jede Welt und jedes Thema zutraut. Unvergessen, wie er für „Fitzcarraldo“ mit Klaus Kinski ein Schiff über den Berg ziehen ließ.
Bei den Dreharbeiten im Dschungel war er zum Schluss allein mit dem Glauben es zu schaffen. In seinem Tagebuch „Die Eroberung des Nutzlosen“ beschreibt er, wie er ein Kreuz an seine Hüttenwand zeichnete. Er fokussierte den Punkt, an dem die Linien zusammentreffen. Das war sein Ziel. Darum allein ging es inmitten aller Meinungen. Und er schaffte es schließlich. Er zog das Schiff über den Berg.
Als die Fragen für das Publikum eröffnet werden, fragt eine Frau: „Wie schaffen Sie das, diesen Glauben, diese Stärke zu halten? „Wenn Du an einem bestimmten Punkt bist, gibt es kein Zurück“, sagt er. Er schaue immer nach vorne, auf das nächste Projekt. Kein langes Zurückdenken. Das machen, was man in der Tiefe seines Herzens fühlt. „Wenn Du eine Vision hast, gehe ihr nach. Wenn dich dabei andere Leute stören – just to hell with them. Solange Du Selbstbewusstsein hast, ist alles gut.“
Er ist 76 Jahre alt und spricht wie ein junger Mensch. Es gebe keine Zeit zu verlieren, bis man zum Punkt kommt in einem Gespräch. „Du musst Dich sofort mit Deinem Gesprächspartner verbinden.“ In seinem Film „Death row“ über Kandidaten im amerikanischen Todextrakt hatte er nur wenig Zeit für die Interviews. Er sei gleich zum Kern gekommen. Das sei im Grunde immer so. Es gelte eine tiefere Wahrheit zu vermitteln, den Menschen ins Herz zu schauen. „Das schafft eine Form der Poesie.“
„Welche Techniken wenden Sie an, wenn Sie Gespräche führen“, fragt ihn die Moderatorin. „Es gibt keine Techniken. Wie man zur Seele eines Menschen vordringt, bringt einem das Leben bei. Dafür gibt es keine Filmschule.“
Er spricht auch darüber, wie die Menschen ihn im Internet imitieren. Sein deutlich artikuliertes Englisch mit dem deutschen Akzent, das er in seinen Filmen spricht. Das sei „seine Bühnenstimme, die er entwickelt habe“, sagt er. Die Imitatoren im Internet seien recht „lousy. It’s going pretty wild.“ Das Publikum lacht. Aber das mache ihm nichts aus.
„I know who I am“, sagt er fest. Er wirkt wie ein Mensch, der sich seiner sicher ist, von dem eine starke Ruhe und Kraft ausgeht.
Als ein junger Filmemacher ihn um Rat für das Filmemachen fragt, wiederholt er nur ein Wort: „Read, read, read, read, read, read, read, read, …read.“ Er macht eine Pause „Read, read, read, read“, wiederholt er. Er selbst schaue nur ein paar Filme im Jahr, lese aber viele Bücher. „Lesen ist wichtig und Gehen. Auf eigenen Füßen reisen“. Er selbst ist einmal von München nach Paris gewandert. Wahre Tiefe käme vom Wandern und vom Lesen. Das scheint ihm wichtig zu sein. Echte Substanz zu entwickeln. Mit einer Ruhe, die Raum für 70 Filme schafft.
Es ist beeindruckend, in all den Weltuntergangs-Tönen, die derzeit um einen schwirren, jemandem zuzuhören, der fest an die Zukunft glaubt. Für Herzog scheint es nur eine richtige Zeit zu geben. Und die ist Jetzt.
„Wir haben gerade keinen Krieg. Wir leben in Frieden. Nutzt das. Erschafft etwas, das eine tiefere Wahrheit hat. Geht dahin, wo Geschichten liegen. Wo Ihr Euch auskennt.“ Er hat viel von der Welt gesehen und hört nicht auf, sie kennenlernen zu wollen.
„Ihr schaut in eine großartige Zukunft“, sagt er zum Schluss. „Ich habe angefangen mit 35mm-Filmmaterial zu drehen. Für Euch spielt die Technik keine Rolle mehr. Sie wird immer einfacher. Darin liegt viel Freiheit.“ Man könne Dokumentarfilme schon mit 1000, 2000 Euro machen. „Just roll up. Folgt Eurem Herz mit der Kamera“, sagt er. Das Publikum applaudiert. Er steht auf, 76 Jahre alt, legt seine Hand an die Brust, schaut in die Menge, in all die Gesichter. Und in vielen, die von hier weggehen, das spürt man, liegt neuer Mut.
→ „Read, read, read!“ Bücher von Werner Herzog:
„Eroberung des Nutzlosen“, Carl Hanser Verlag 2004, 336 Seiten
„Vom Gehen im Eis“, Fischer, 2009, 112 Seiten
Foto: Christa Pfafferott