erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 1.11.2024

Wer am Menschsein zweifelt, muss morgens unter Menschen. Zwischen 4 und 5, wenn es fast noch Nacht ist und dunkel. Um diese Zeit sind in Hamburg schon erstaunlich viele Menschen auf den Beinen.

Sie haben sich aufgerafft, angezogen, vielleicht Brotdosen für ihre Kinder gefüllt oder ein Schälchen für die Katze hingestellt. Sie waren schon kurz mit dem Hund draußen oder haben sich auch einfach nur selbst versorgt, frische Socken angezogen, Wasser ins Gesicht geschlagen. Und dann müssen sie los, gehen ihrer Pflicht nach. Sie treten aus dem Haus, dick eingepackt, zünden sich manchmal draußen eine Zigarette an, als würden sie mit dem Ritual den Tag anknipsen. Sitzen dann in der U-Bahn, die Stirn am Fenster, die Augen geschlossen, wachen wie automatisch auf und rappeln sich hoch, wenn die Bahn ihre Station erreicht.

Die Menschen um diese Zeit haben etwas Friedliches. Sie sind still, müde, in einer Zwischenzeit: zwischen Nacht und Tag. In ihren Gesichtern ist etwas Dünnhäutiges, Sensibles. Sie erinnern an die Kinder, die sie einmal waren. Nur dass sie jetzt keine Kinder mehr sind und meist niemand mehr ihr Aufstehen und Leben für sie regelt. Dass sie es jetzt selbst tun müssen und oft erstaunlich gut hinbekommen.

 Wenn ich am Morgen diese Menschen sehe, erfasst mich ein Gefühl von Zärtlichkeit, das ich nur schwer erklären kann. Manche dieser Gesichter sehen verhärmt aus und von etwas Längerem müde als nur von diesem Morgen. Vielleicht rührt es mich, dass diese Menschen alle irgendwie auf ihre Weise versuchen, ihr Bestes zu geben oder überhaupt einfach nur erfüllen, was an diesem Tag als Aufgabe an sie gestellt wird. Dass sie das Leben antreten und sich tapfer einreihen in die Anforderungen an sich. Ich denke dann, dass irgendwie alle Menschen etwas Gutes in sich haben. Wirklich alle. Im Grunde fällt alles zurück auf einen Kern, in dem jeder Mensch schon irgendwie okay ist. Und das vielleicht mehr, als sie selbst von sich glauben.

Und ich denke an das, was mich schon als Kind beschäftigt hat: Wie es eigentlich funktioniert in einer Gesellschaft, dass genug Menschen da sind für all die verschiedenen Berufe und Aufgaben, die es gibt. Wie es sich aufteilt, dass die eine Person im Krankenhaus arbeitet und die andere im Supermarkt oder die andere Lehrer oder Polizistin ist und das Zusammenleben irgendwie funktioniert, auch ohne dass diese Aufgaben erzwungen zugeteilt werden wie in einer Diktatur.

Auch wenn es sich abzeichnet, dass sich dies vielleicht bald nicht mehr so organisch fügt, weil es überall Notstand zu geben scheint: einen Notstand auf den Baustellen, in den Schulen, in Pflegeheimen, in Restaurants, Bussen und Zügen. Überall fehlen Menschen, die frühmorgens aufstehen für diese Aufgaben. Und zudem gibt es auch Berufe, die eben nicht ganz freiwillig aufgeteilt sind, weil nicht alle gleichsam Zugang dazu haben und dort sind, wo sie gerne wären. Auch weil sie vielleicht nicht genug Träume dafür haben oder Kraft oder Geld oder Menschen, die sie geweckt und motiviert haben morgens, als sie noch klein waren und dies allein nicht konnten.

Und trotz alledem ist es so, dass erstaunlich viele Menschen frühmorgens unterwegs sind. Still und müde. So dass sich ihr Bemühen zu einem großen gesellschaftlichen Mosaik zusammenfügt. Und das zu sehen, früh im Dunkeln, berührt mich. Ja. Wer am Menschsein zweifelt, muss morgens unter Menschen.

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