erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 6.9.2024
Mit nur einem Prozent Akku bin ich in Gera angekommen. Im Zug hat mein Handy nicht geladen. Ich versuche, mir den Weg auf der Karte im Handy einzuprägen. Um die Kurve – geradeaus – beim Kaufland links – beim Kreisverkehr schräg runter und links. Der Bildschirm wird dunkler, dann schwarz. Ich bin off.
Ich habe in Gera eine Vorstellung meines Films am nächsten Tag und weiß gerade nur den Namen des Hotels. Ich gehe eine lange Straße hinunter, ziehe meinen Koffer über Plattenweg aus DDR-Zeit.
Vor mir bauen zwei Männer Wahlplakate von einem Gitter ab. Die Partei darauf hat die Fünf-Prozent-Hürde bei der Landtagswahl in Thüringen am vergangenen Sonntag nicht geschafft. Wie fühlen sie sich jetzt wohl? Der eine Mann geht schwerfällig in die Hocke, um die Riemen am Plakat zu lösen. Politik ist Kleinstarbeit.
Vor mir läuft ein etwa fünfzigjähriges Paar. Einmal grüßt es zu einem Pick-up an einer Ampel, dann hinauf zu einer älteren Dame auf einem Balkon. Sie recken die Arme zu Siegesfäusten zum Himmel. Machen sie das wegen der Wahlergebnisse? Das Paar wirkt an diesem Ort zu Hause. Ich fühle mich hier gerade verloren. Dann kommt Kaufland, bislang bin ich ja richtig, ich biege links ab.
„Pass auf dich auf in Thüringen“, hat eine Bekannte im Spaß gesagt, bevor ich losfuhr, kurz nach den Wahlen, bei der die hier vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte AfD 32,8 Prozent erhielt. Der Satz gab mir einen Stich. Ich bin Thüringen verbunden. Meine Verwandten väterlicherseits stammen von hier. Ich kenne hier viele Menschen. Thüringen ist eine Region, die auch etwas Magisches hat, mit grünen Hügeln, weiten Feldern, viel Wald.
Am Tag zuvor in Eisenach, als ich dort auch für eine Filmvorführung ankam, hörte ich die Toccata in d-Moll von Bach, der hier geboren war, auf meinen Kopfhörern. Ich stand vor dem Martin-Luther-Denkmal, dem großen Reformator von hier. Ich dachte, welche Größen die Region hervorgebracht hat, wie viel Kultur.
Der Blick auf Thüringen ist nun im Rest des Landes vor allem durch die rechten Wahlergebnisse geprägt. Doch das wird der Region in seiner gesamten Vielschichtigkeit nicht gerecht.
Als ich den Kreisverkehr erreiche, weiß ich nicht mehr weiter. War es diese oder die andere Straße runter? Ich sehe ein vollgestopftes Auto, in dem eine Familie sitzt, die Fahrertür weit offen. Vor dem Steuer sitzt eine Frau, die eine junge Oma sein könnte, daneben vielleicht ihr Schwiegersohn, hinten eine Mutter mit Kind. Alle haben eine Eiswaffel in der Hand.
Ich frage, ob sie in ihrem Handy nach dem Weg zu dem Hotel schauen könnten. Die Frau vor dem Steuer nickt stumm: Sie knabbert an ihrer Eiswaffel, während sie auf dem Handy herumwischt. Zeit vergeht ohne jede Reaktion. Keiner beachtet mich. Für einen Moment wirkt die Situation irreal. Hat mich die Frau vergessen? Was schaut sie so lange auf ihr Handy?
Während die Familie da so sitzt, spüre ich plötzlich Heimweh bei der Vorstellung, nun in ein fremdes Hotel zu gehen. Schließlich scheint auch die Tochter irritiert zu sein, dass die Mutter nichts sagt: „Siehst du etwas?“, fragt sie. Die Frau isst den letzten Happen Eis: „Ja. Es sind nur 230 Meter.“ Ich erhasche einen Blick auf den Bildschirm mit der Route und bedanke mich, die Familie verabschiedet sich knapp.
Im Hotel begrüßt mich eine gutgelaunte Besitzerin mit bayerischem Dialekt. Am nächsten Morgen erwartet mich beim Frühstück eine Überraschung. Am schön hergerichteten Büffet gibt es auch chinesische Gerichte: Sommerrollen, liebevoll zubereitete Dumplings.
„Wir haben eine chinesische Köchin“, erklärt mir eine Mitarbeiterin. Als ich den Frühstücksraum verlasse, flimmert auf dem Fernseher in der Lobby die Nachricht: „Fachkräftemangel in Ostdeutschland. Menschen mit Migrationshintergrund schreckt Rassismus ab.“ Ich mache mich auf zur Filmdiskussion. In einem zerrissenen Bundesland, das mir am Herzen liegt.
Foto: Christa Pfafferott, Eisenach/ Thüringen