erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 9.8.2024
Ich bin viel zu spät. Ich ärgere mich, dass ich zu spät komme, obwohl ich früh aufgestanden bin. Wie kam mir die Zeit abhanden? Während ich zu meinem Termin eile, sehe ich in der Ferne eine Frau am Boden sitzen. Es sieht seltsam aus, wie sie dort mitten auf dem Gehsteig hockt. Bettelt sie?
Etwas an ihr ruft in mir einen Anflug von Ärger hervor. Ich spüre schon von Weitem eine Frequenz, dass ich mich zu ihr verhalten muss. Dass sie ein Hindernis sein wird auf meinem Weg, auf dem ich doch alles ausblenden muss, um irgendwie noch pünktlich zu kommen. Doch dann bin ich auf ihrer Höhe. Und dann ist es egal. Alles stoppt. Ich spüre, sie braucht Hilfe:„Geht es Ihnen gut?“, frage ich.
Sie antwortet nicht. Eine Frau, die auch zur Arbeit gehen wollte. „Ich bin gefallen“, sagt sie langsam. „Habe ich was im Gesicht?“, fragt sie.
„Ein wenig Blut am Kinn.“
„Ist es schlimm?“, fragt sie erschrocken. Sie scheint vor allem zu interessieren, ob etwas in ihrem Gesicht versehrt ist.
„Nein, nein“, sage ich. Ich versuche beruhigend zu klingen.
„Ich komm nicht mehr hoch“, sagt sie.
„Soll ich Ihnen helfen?“. Sie nickt. Dann greife ich von hinten unter ihre Arme, ich spüre Schweiß unter ihren Achseln. Angstschweiß, denke ich, dann richte ich sie auf. Als sie steht, schwankt sie. Ich stütze sie. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, frage ich.
„Nein, nein“, sagt sie schnell. Ihre Wasserflasche liegt am Boden. Ich hebe sie auf. Sie trinkt ein paar Schlucke und schwankt immer noch dabei. Ich mache mir Sorgen und überlege, ob ich gegen ihren Willen einen Krankenwagen rufen soll.
„Ich falle in letzter Zeit immer wieder um“, sagt sie dann.
„Waren Sie deswegen beim Arzt?“, frage ich.
„Ja, er meinte, das wäre nur Stress. Aber gestern ist es mir auch passiert. Einfach so, aus dem Nichts. Das ist kein Stress. Ich verliere das Gleichgewicht.“
„Vielleicht gehen Sie noch mal zu einem anderen Arzt?“
„Ja, das dachte ich auch.“
Ich spüre auf einmal etwas Schweres in mir, die Sorge, dass hinter ihrem Fallen etwas Ernstes liegen könnte.
„Es geht schon“, sagt sie. Sie macht einen Schritt, doch es geht nicht. Die Frau schwankt. „Warten Sie noch einen Moment“, sage ich.
Ich stehe mit ihr auf der Straße. Kurz denke ich an meinen Termin, den ich nun innerlich loslasse. Es ist zu spät. Doch was sind Minuten, Stunden gegen entscheidende Momente.
„Ich möchte nach Hause“, sagt sie. „Soll ich Sie begleiten?“, frage ich.
Die Frau zögert. Sie umgibt eine höfliche Distanz. Selbst in dieser Situation. Oder vielleicht gerade wegen dieser hilfsbedürftigen Lage. Sie wirkt wie ein Mensch, der vieles allein schafft oder sich vielleicht daran gewöhnt hat.
Dann nickt sie: „Ich wohne ganz nah.“
Langsam laufen wir ein paar Schritte. Als wir ihr Mehrfamilienhaus erreichen, schließt sie die schwere Haustür auf, modern, gut gesichert. Zusammen gehen wir bis zu ihrer Wohnungstür: „Schaffen Sie es wirklich?“
Sie nickt.
Mit unsicherem Schritt geht sie in ihre Wohnung. Sie öffnet dabei die Tür nur einen Spalt, als wollte sie verhindern, dass ich mit hineingehe, dass ich weiter mit ihr in ihr Leben schreite.
Doch dann blickt sie mich an.
„Wie heißen Sie?“, fragt sie, als würde sie damit den Vorfall für sich ordnen wollen.
Ich sage meinen Vornamen. Sie nickt und lächelt.
Dann zieht sie die Tür zu.
Ich gehe aus dem fremden Haus, aber ich beeile mich nicht mehr. Als ich meinen Termin erreiche, sind auf wundersame Weise auch die anderen zu spät, mit denen ich verabredet war. Es ist, als hätte sich in der Zeit eine Lücke gebildet, in der ich die Frau aufheben sollte.
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott