erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 12.7.2024
Ein Abend, an dem wir alle in die gleiche Richtung schauen. Zu mehreren sitzen wir auf einem langen Sofa, die meisten sind junge Studierende. Ein Freundespaar von mir veranstaltet jeden zweiten Montag Kinoabende bei sich. Es sind besondere Abende, an denen die Anforderungen der Welt draußen bleiben.
Manchmal lasse ich während dieser Vorführungen meinen Blick über die Gesichter schweifen, die erleuchtet vom flackernden Filmlicht zur Leinwand blicken. Ich kenne nicht alle Gesichter, einige Leute, die kommen, wechseln.
Ich versuche mich an einen Abend vor ein paar Wochen zu erinnern, als wir „Toy Story“ schauten. War es dieser Abend oder doch ein anderer? Einmal kam eine junge Frau später aus dem Dunkeln der Tür auf uns zu. Wir waren schon vertieft in den Film und sie setzte sich dazu. Sie brachte das Leben und die Luft von draußen in den dämmrigen Raum. Ich habe kaum noch eine Erinnerung an sie. Nur dass da plötzlich dieser Mensch dazukam. Dass sie sich noch spät auf den Weg gemacht hatte, obwohl die Vorführung schon begonnen hatte. Als dann am Ende das Licht anging, fiel mir auf, dass diese Frau aus dem Dunkeln auffallend schön war. Erinnere ich mich richtig? War es wirklich sie? Ich musste kurz darauf zum Zug.
Ein paar Wochen später fahre ich am Bahnhof an einer Ampel vorbei, an der Blumen und Kerzen stehen. Heute ist wieder Kinoabend. Heute wollen wir der jungen Frau gedenken, die an dieser Ampel ums Leben kam, zusammen mit einer Freundin. Hier haben sie vor zwei Wochen auf Grün gewartet, als ein Auto in sie hineinfuhr. Die beiden Frauen starben. Ein weiterer Junge und der Fahrer überlebten verletzt. Ich wage kaum zu der Stelle zu blicken. Ein Ort des Alltags, den viele Menschen passieren, wo es jeden hätte treffen können.
Eine der beiden jungen Frauen, die hier starben, war bei den Kinoabenden dabei. Heute schauen wir ihr zu Ehren einen Film, für den sie damals als einzige abgestimmt hatte: „Das war sie, weißt Du noch? Die damals noch spät gekommen ist, die plötzlich auftauchte“, sagt die Gastgeberin. „Und sie hat etwas zu Essen mitgebracht. Wie nett.“ Etwas daran lässt mich nicht los. Ich kannte die Frau nicht, die an der Ampel verstarb und die mit uns auf dem großen Sofa saß. Sie kommt mir rückblickend wie eine Erscheinung vor, die sich aus dem Dunkel dazusetzte. Und jetzt ist sie plötzlich weg. Herausgerissen aus dem Leben.
Ich verspüre eine unbestimmte Unruhe um diese Leerstelle. Sie ist nicht mehr da, bevor sie richtig da sein konnte. Verschwunden, bevor ich sie kennenlernte. Aber es ist nicht nur das. Ich spüre etwas größeres Verschobenes, was ich nicht begreife.
Ich beginne nach ihr zu recherchieren. Im Internet finde ich eine Traueranzeige. Die junge Frau ist fünf Tage nach ihrem 28. Geburtstag gestorben. Ihre Familie schreibt in der Anzeige: „Du warst immer unser Sonnenschein. Das Leben ist nicht fair!“ Darunter die Bitte, keine Trauerkleidung zur Beerdigung zu tragen. Sie habe Farben so geliebt.
Ich scrolle im Chat-Verlauf der Kinogruppe bis zu dem Abend vor zweieinhalb Monaten, als wir „Toy Story“ schauten. An dem Abend hatten mehrere abgesagt. „Ich komme noch nach“, schrieb sie. Sie habe sich verquatscht und die Zeit vergessen. Ich denke, wie schön, dass sie sich damals noch auf den Weg machte.
Und ich spüre die Endgültigkeit des Todes, die auf einmal hart ins Leben schneidet, ohne Vorahnung. Dass wir bei aller Ungeheuerlichkeit um das Wissen des Todes unseren Alltag leben, uns weiter auf den Weg machen. Es war ein schöner Abend damals.
Nach dem Film sage ich dem Gastgeber, dass es mich erschüttert, dass der Mensch, der da vor Kurzem mit uns saß, nicht mehr da ist. Wie wir alle nichts davon ahnten. Der Freund schaut mich an: „Ja, jetzt ist sie nicht mehr da. Aber an diesem Abend war sie da. Es waren 28 Jahre. Diese 28 Jahre war sie da.“