erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“ in taz. Die Tageszeitung, 12.1.2024
Manchmal bricht Märchenhaftes in das Leben und lässt es besonders klar erscheinen. Draußen ist Winter, drinnen erfüllt ein Kichern und Quatschen den Zug. Viele junge Menschen sind in den Abteilen. Babys, Kinder und eine Gruppe Teenager. Sie lachen und necken sich. Ein Vorhang aus Freude umgibt sie. Sie sind alle in Leinenkostüme gekleidet: Junge Mönche, Ritter mit Bartflaum laufen durch die Gänge. Sie wirken stolz auf ihre Besonderheit, die sie als Gruppe eint. Sie erzählen, dass sie Pfadfinder seien und sich für eine Mittelalterveranstaltung im Süden verkleidet hätten. Ihre Lebensfreude ist ansteckend.
Die Kinder in den Abteilen hocken friedlich auf dem Schoß der Eltern, vor sich Bücher, Bildschirme oder Tupperdosen mit geschnittener Paprika.
In einem Viererabteil vor einem großen Fenster sitzen ein Vater, eine schwangere Mutter und Kind. Das Kind hat Kopfhörer auf und schaut mit verträumten Augen hinaus. Irgendwann bemerken alle, dass der Zug stehen geblieben ist. Eine Durchsage ertönt: „Es tut uns leid, wir stehen wegen eines Tiers auf der Strecke.“ Etwas später wird es präziser: „Ein Wolf ist auf den Schienen. Er wurde nun eingefangen. Die Polizei wartet noch auf den Tierschutz.“
„Weiter“, sagt ein etwa zweijähriges Mädchen und schaut in die karge Landschaft draußen: „Weiter.“
Ihre Eltern erklären ihr, dass das nicht ginge, weil ein Wolf auf den Schienen sei.
Ein Wolf. Was mag das für ein Wolf sein? Ist er tollwütig, gefährlich oder verängstigt? Sitzt er mit zitterndem rundem Rücken auf den Schienen? Etwas eigentümlich Mystisches mischt sich mit dem Wolf in diese Reise, die von mittelalterlichen jungen Menschen flankiert ist.
Die Polizei wartet weiter auf den Tierschutz und gibt die Strecke nicht frei. Erst nach mehr als einer Stunde Verspätung scheint der Wolf versorgt zu sein, ohne dass mehr zu seinem Schicksal bekannt wird. Als der Zug weiterfährt, verweisen vor dem Fenster keine Spuren auf ihn. Als hätte es ihn nicht gegeben, dabei hat der Wolf eine Stunde Zeit im Leben aller hier geprägt. Schnell nimmt der Zug volle Geschwindigkeit auf.
Krrrk. Auf einmal knackt es laut. Ein Geräusch, wie wenn etwas Hartes bricht. „Was war das?“, fragt das Kind nebenan im Viererabteil erschrocken.
„Die Scheibe ist gesprungen“, sagt die Mutter und schaut zum Fenster. „Mitten während der Fahrt.“ Über das ganze Glas erstrecken sich plötzlich spinnenwebartige Risse.
„Wir müssen hier weg!“ Hastig steht die Familie auf und gibt dem Zugbegleiter Bescheid.
Kurz darauf ertönt wieder eine Durchsage: „Manchmal ist einfach der Wurm drin. Nun ist eine Scheibe kaputtgegangen. Die müssen wir erst einmal absichern.“
„Das war der Wolf“, sagt eine Frau und lacht, zieht wie selbstverständlich zwischen zwei Sonderbarkeiten eine Verbindung. „Durch den Wolf ist die Scheibe zersprungen.“
Der Zug hält nun außerplanmäßig in einem kleinen Bahnhof. Mit großer Ernsthaftigkeit bewegen sich ein älterer großer und ein jüngerer kleiner Zugbegleiter mit einer Klappleiter und einer großen Rolle Plastikfolie durch den Zug. Sie könnten ein Duo in einem Comic sein, unterwegs zu einem Einsatz.
Die Zugbegleiter arbeiten draußen an der Scheibe. Schließlich kommen sie wieder zurück, sie wirken zufrieden damit, die Scheibe gesichert und etwas Wichtiges geschafft zu haben.
Der Zug hat nun mittlerweile zwei Stunden Verspätung. Als er den Bahnhof erreicht, ertönt die Durchsage: „Vielen Dank, dass sie mit uns gelitten haben.“ Die Fahrgäste lachen.
Später steigt ein junges Paar dazu, das nichts von den vorherigen Vorkommnissen weiß. Selbstverständlich setzt es sich in das Abteil vor die zerrissene Scheibe, die mit einer großen durchsichtigen Folie geklebt wurde. Sie unterhalten sich leise auf Japanisch und beugen sich über eine Schale mit warmem Essen. Es hat etwas Schönes, wie die Winterlandschaft wie ein zerbrochenes Mosaik an ihnen vorbeizieht. Wie sie vor der zersprungenen Realität sitzen, die sich manchmal so magisch offenbart.