erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 27.11.2022
Am schönsten sind Menschen oft in ihren Pausen. Nicht in den geplanten Pausen, in denen sie in den Urlaub fahren und wissen, dass sie pausieren werden. Es sind die Momente, in denen ihnen ihre Pause gar nicht bewusst ist. Wenn sie in sich versunken in einem Hof stehen, einen Kaffee trinken, vielleicht eine Zigarette rauchen, lesen oder vor sich hinstarren. Es sind in sich versunkene Momente des Seins.
Die Orte der Pausen sind oft Zwischenorte. Sitze in Verkehrsmitteln. Flure, Balkone oder Hinterhöfe, in denen Menschen zwischen Kisten hocken, auf einem Treppenabsatz sitzen oder sich an eine Hauswand lehnen. Pausen geschehen in Winkeln aus Zeit und Raum. Es sind Ich-Momente im Versteck.
Einmal beobachtete ich ein Mädchen, das in einer Wartehalle eines Flughafens saß, umgeben von Taschen. Ihr Gesicht war versunken in einem dicken Wälzer. Ihre Eltern und Geschwister standen ein paar Meter abseits, aßen und quatschten. Immer wieder gingen sie zu dem Mädchen und fragten sie etwas. Doch das Kind blickte kaum auf, sie selbst und ihr Buch schienen ihr auszureichen. Sie war völlig bei sich.
Vor Kurzem in der Salzwasser-Sole im Hamburger Schwimmbad blickte ich auf die Menschen, die mit ausgebreiteten Armen auf dem Wasser trieben. Die Menschen gönnten sich eine Pause, von der sie wussten, dass es eine war. Doch selbst hier stellte ich diese Verwandlung fest, die so faszinierend ist. Auf ihre fast nackten Körper zurückgeworfen, trieben die Badegäste in bunten Badehosen und Bikinis im Salzwasser, ließen im Vertrauen los.
Fast sah es aus wie in einem futuristischen Film, als sollten sie im Salzwasser konserviert werden für lange Zeit, hinübergetragen werden in ein nächstes Jahrhundert. Jeder und jede für sich schwebend, das Gesicht zur Decke gestreckt. Alle sahen zufrieden aus. Friedlich.
Ein Mann schaute nach oben, mit entrücktem Blick. Darin war etwas Zartes, Ungeschütztes. An was dachte er jetzt, was fühlte er, von was ließ er gerade los?
Das Besondere einer Pause ist, dass ein Mensch dabei mit sich kongruent ist. Pausen und Langeweile sind Momente, in denen das psychische Gefäß leer wird und deshalb neu gefüllt werden kann. Eine Pause machen zu können, entspricht der Würde des Menschen. Jeder und jede hat ein Anrecht auf Pausen. In die Leere zu gehen. Ins Ich.
Dabei steigt die Anzahl der Pausen zum Beginn und zum Ende der Lebenszeit eines Menschen. Die Pausen umklammern das Leben.
Vor und nach den Jahren, in der die meisten Menschen Lohn- und Sorgearbeit machen, sind die meisten Pausen möglich. Bei Kindern und Älteren. Es ist besonders geheimnisvoll, ein Kind versunken in einer Pause zu sehen. Wenn man ein Kind sucht und es plötzlich hinter einem Sofa findet, die Füße gegen das Polster gestemmt, den Kopf versunken auf etwas gerichtet. Ganz bei sich. Wie schön, was es an Geheimnis in dir gibt, möchte man rufen.
Alte Menschen machen auch Pausen. Und es ist manchmal leichter, in ihrer Gesellschaft selbst ins Pausieren zu kommen. Doch alte Menschen scheinen manchmal in die Pause zu fallen wie in eine Tiefe. Sie werden nicht mehr ernst und für schön wahrgenommen in ihren Pausen. Nicht mehr arbeitend, beschäftigt in getakteten Tagen machen sie keine Pause. Sie sind die Pause.
Dabei sind die Gedanken die gleichen lebendigen, fragenden und jungen geblieben. Das Gespräch mit der damals 96-Jährigen bleibt mir im Kopf: Wie sie erzählte, dass sie jetzt so viel am Fenster säße. Weil sie Zeit habe, wofür früher nie Zeit war: die Vögel zu beobachten, die Wolken. Und sie erzählt strahlend, was sie denkt, wenn ihre Augen das sehen, was sie nun schon seit fast hundert Jahren sieht: Wolken, Vögel.
Sie denkt, wie schön das Leben ist, wie besonders es doch ist, wenn sie da sitzt. Und man möchte rufen: Wie schön, was es alles an Geheimnis in dir gibt!
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott