Die Zecke – taz
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 6.8.2022
Die letzten Tage bin ich barfuß über Gras und Wege gelaufen. Jetzt denke ich: Wo ist es passiert? Im Wald oder auf der Wiese? Ich bin gerade geschäftlich verreist, in eine kleine Stadt, die ich nicht gut kenne. Den ganzen Tag schon hat mich etwas zwischen den Zehen gejuckt. Bis ich sie entdeckt habe: die Zecke. Groß und dick sitzt sie zwischen meinen Zehen.
Es ist heiß und schwül. Ich bin erschöpft. Ich würde mich am liebsten gar nicht bewegen, aber ich weiß, dass ich diese Zecke loswerden muss. Ich gehe nach draußen und besorge mir eine einfache Zeckenzange, doch ich bekomme die Zecke nicht heraus. Die Zange ist zu groß, um die Zecke herausziehen zu können.
Es klappt nicht. Ich kenne hier niemanden, der mir bei so etwas helfen könnte. Wie schnell man allein hilflos werden kann, denke ich.
Ich betrachte die Zecke, wie sie sich weiter voll Blut saugt und in meinen Kopf treten die Meldungen über Borreliose und Hirnhautentzündung. Ich schaue auf die Zecke, die da so unscheinbar zwischen meinen Zehen sitzt und von der so eine große Gefahr ausgehen kann.
Ich suche im Internet nach Arztpraxen in der Nähe und finde schließlich eine. Als ich dort ankomme und der Mitarbeiterin am Empfang mein Problem schildere, schaut sie mich ausdruckslos an.
„Wir sind komplett zu“, sagt sie. „Keine Chance.“
„Gar keine?“ Ich blicke sie an.
„Die Straße runter und dann links ist eine andere Praxis“, sagt sie. „Versuchen Sie es dort.“
Draußen fällt mir ein, dass ich meine Versicherungskarte nicht dabei habe. Sie liegt in Hamburg in meiner Wohnung. Wer wird mich hier behandeln, wenn ich nicht einmal meine Krankenkassenkarte vorzeigen kann?
Die nächste Praxis, die ich betrete, ist modern, weiß und geräumig. Sie macht einen kahlen Eindruck. Wie muss es sein, hier jeden Tag zu arbeiten, denke ich, als ich auf die Mitarbeiterin zu trete, die in einem großen Vorraum allein hinter dem Tresen sitzt.
„Ich habe keinen Arzt da“, sagt die Mitarbeiterin. „Ich bin allein hier.“
Ich schaue die Mitarbeiterin an. Sie ist etwa mittelalt und kräftig. Sie hat ein freundliches Gesicht und warme, grüne Augen.
„Was soll ich jetzt tun“, frage ich sie. „Ich weiß nicht, wie ich die Zecke loswerde.“
Sie schaut mich an: „Soll ich mal gucken?“, fragt sie dann. Ganz lieb hört sich der Satz an: „Soll ich mal gucken?“
Ich nicke.
Sie fragt nicht nach meiner Versicherungskarte und nach meinen Personalien. Wir gehen einfach in ein Behandlungszimmer. Ich stelle den Fuß auf eine Liege mit Krepppapier und zeige ihr die Zecke. Sie holt eine Zeckenzange aus dem Schrank, setzt sie zwischen den Zehen an und zieht die Zecke mit einem Zug hinaus: „Hab sie“, sagt sie. „Mit Kopf.“
Ich fühle ein vollumfassendes Gefühl der Erleichterung.
„Danke“, sage ich. „Danke, dass Sie mir geholfen haben.“
„Kein Problem“, sagt sie.
„Das ist nicht selbstverständlich“, sage ich.
Es gibt sicherlich viele, die sich nicht in das Wagnis begeben würden. Was wäre, wenn sie den Kopf der Zecke nicht mit herausbekommen hätte, wenn ich doch krank geworden wäre, wenn ich sie verklagt hätte. Ich schaue die Mitarbeiterin an, sie lächelt. Sie hat es gemacht, ohne nachzudenken. Sie hätte ein riesiges Problem daraus machen können, aber sie hat einfach geholfen.
Draußen auf der Straße fühle ich mich beschwingt, wie von einer größeren Last befreit. Und in einer tieferen Zuversicht bestätigt.