erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 23.7.2021
Merkwürdig, wie wir uns durch Orte verändern. Wie Menschen an einem bestimmten Ort jemand anderes sein können. Oder genau die Person werden, die sie eigentlich sind.Die Schreie klingen schon von Weitem. Metallen und hoch schwingen sie durch den Wald. Einzelne, durchdringende Töne, die so ohne Verortung fast unheimlich, wie etwas zwischen Mensch und Tier anmuten: Pfauenschreie. Würde man diesen Schrei mit Vokalen vergleichen, würde er mit einem i beginnen, zu einem a gleiten, auf einem o enden. Eine langgezogene Klage: „Mi-ha-o!“
Ein Ausflug zur Pfaueninsel nahe Berlin. Nur wenige Meter Wasser trennen die Insel vom Ufer. Doch hin man gelangt nur mit einer kleinen Fähre über die Havel. Zwei Euro kostet die Überfahrt. Als sollte verdeutlicht werden, dass es hier eine Grenze gibt, dass man diese Welt nicht einfach so über eine Brücke betreten kann. Die Pfaue bleiben durch das Wasser abgeschottet und können auf der Insel frei umherlaufen. Sie hat etwas Verwunschenes. Es gibt hier einen Wald und Wiesen und kleine Schlösschen.
Zuerst sind die Pfauen nicht zu sehen. Nur ihre Schreie klingen durch den Wald. Dann, plötzlich, überquert einer den Weg: groß und stolz, das Gefieder leuchtend blau, mit einem langen Schweif mit irisierenden Farben, der sich zu einem Rad aufstellen kann. Ein Fabelwesen wie aus einer anderen Welt. Der Pfau läuft nah an uns heran, er ist ganz zutraulich. Andere Pfauen kommen dazu. Wir erreichen eine Voliere, ein rundes Vogelgehege, in dem auch weiße Pfauen untergebracht sind.
Immer wieder dringen die Schreie über die Insel. Wir gehen langsam um die Voliere herum und schauen uns die anderen Vögel an.
Auf einer Bank sitzt allein ein Mann, eingesunken mit einer Bierflasche in der Hand. Er schaut mit leerem Blick in die Voliere hinein. Ihm fehlt die Aufgeregtheit, die die anderen Menschen hier umgibt, die die Insel besuchen.
Als wir an dem Mann vorbeigehen, ertönt ein langgezogener Schrei: „Mi-ha-o!“ Wir drehen uns um. Doch da ist kein Pfau. Da ist nur der Mann auf der Bank.
Wir gehen weiter. Dann erklingt wieder ein Schrei. Und jetzt sehen wir es: Es ist der Mann, der schreit. Er antwortet den Pfauen. Und er lockt ihre Rufe hervor. Er sitzt da, ohne jede Körperspannung – und dann plötzlich richtet er sich auf. Streckt den Oberkörper, legt den Kopf zurück in den Nacken und drückt aus seiner Brust einen Schrei, metallen und klar. Einen perfekten Pfauenschrei.
Es ist faszinierend, was für eine Veränderung in dem Mann vor sich geht, wenn er schreit. Wie der schlaffe Körper stolz wird, wie dann etwas in ihm lebendig wird. Wir können den Blick kaum von ihm lassen: „Der Pfauenflüsterer“, sagen wir. Warum spricht er mit den Pfauen? Und was findet in seinem Kopf statt, wenn er schreit? Antwortet er den Pfauen oder antworten sie ihm?
Als wir weitergehen, klingen die Pfauenrufe anders, ein Geheimnis schwingt nun in ihnen mit. Bei jedem Schrei fragen wir uns, ob er zu den Pfauen oder zum Pfauenflüsterer gehört. Wir versuchen jetzt auch selbst die Schreie nachzuahmen. Es ist gar nicht so schwer. Durch den Pfauenflüsterer hat sich eine neue Verbindung zu den Tieren geöffnet.
Am Abend nehmen wir die Fähre von der Pfaueninsel zurück. Am Ufer ist eine Bushaltestelle, dort wartet allein ein Mann. Eingesunken sitzt er auf dem Boden. Mit leerem Blick schaut er vor sich her. Zuerst bin ich mir nicht sicher, dann erkenne ich ihn: Es ist der Pfauenflüsterer. Ich warte darauf, dass er wieder auf die Schreie antwortet, die bis hier klingen. Doch er sitzt dort wie eine Marionette mit losen Fäden. Er richtet sich nicht mehr auf.
Das Spiel des Mannes scheint vorbei. Hätte man es nicht gewusst, man würde nicht ahnen, wie stolz er sich aufrichten kann, wie sich sein Körper verändert, wenn er schreit. Jeder Mensch braucht eine Insel. Einen Ort, an dem er zu jemand ganz anderem werden kann, einem Pfauenflüsterer, einem prächtigen Pfau. Zu all dem, was wir alles auch sind