erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 7.2.2020
Die Grausamkeit des Lebens kann in kleinen Gesten liegen. Einem Lächeln, das man nicht bekommt. Einem Blick, der nichts sieht. Einer Hand, die in der Tasche bleibt. Die Grausamkeit des Lebens kann in einer Flasche Duftspray liegen, die eine Männerhand durch einen Laden schwenkt. Es stinkt. Der Presseladen am Hamburger Bahnhof. Ein Mann schlurft dem Ausgang zu. Sein Gang ist schleppend, seine Haltung gekrümmt. Sein Blick schweift umher, als würde er nichts suchen und auch nichts finden wollen, nur ein wenig Nähe zu den Menschen hier.
Der Mann verlässt das Geschäft. Der Verkäufer startet augenblicklich mit seinem Duftspray. In weit ausholenden Bewegungen sprüht er damit durch den Laden, hinter dem Weg des Mannes her. Sein Gesicht ist angeekelt. Eine Frau neben mir lächelt. Ein wissendes Schmunzeln über die Geste des Verkäufers. Alle im Laden verstehen sich wortlos. Dieser Mann stank. Wir haben den Mief ertragen. Doch jetzt sind wir froh, dass er weg ist.
Der Verkäufer sprayt den Mann fort. Er löscht ihn hinterrücks, markiert eine unsichtbare Grenze. Den unausgesprochenen Kodex, an dem entlang wir uns im Alltag begegnen: Du fällst nicht auf. Ich falle nicht auf. So darfst du riechen, so nicht mehr. Bis hierhin bleibst du in der Gruppe. Ab da bist du raus.
Ich gehe nun auch aus dem Laden. Ich fühle mich plötzlich selbst nicht mehr wohl. In der Bahnhofsvorhalle denke ich an den Mann mit dem Bein. Den alle kannten. „Ach, der, der so stinkt.“ Ein Obdachloser am Bahnhof, der eine Verletzung am Bein zu haben schien, die nicht richtig verheilte. Er hatte Plastiktüten über das Bein gezogen. Um ihn lag ein meterweiter Raum von Geruch, von Eiter, Schmutz, von Verwesung. Wenn er eine Bahn betrat, wurden alle still. Wie eine Herde Gazellen, die starr wird, wenn ihnen eine Gefahr begegnet. Die Menschen verzogen das Gesicht, sie hielten sich die Hand vor den Mund. Sie nahmen Reißaus. Der Geruch war so stark wie ein Stoß. Niemand konnte das riechen. Vor einiger Zeit habe ich ihn wiedergesehen oder war er ein anderer? Ihm fehlte ein Bein.
Man kann wegsehen, aber nicht wegriechen. Geruch lässt sich nicht rationalisieren. Er ist eine direkte Verbindung zwischen einem Du und dem Ich. Der Geruch eines anderen Menschen erfasst uns taktil, dringt in die Haut, die Atmung, in einen selbst. Riechen ist eine mächtige Berührung. Über nichts erinnern wir uns stärker als über den Geruch. Er warnt, bringt uns in Nähe und Distanz. Und dabei ist der Instinkt schneller als der Verstand. Menschen können noch so nett und hilfsbedürftig sein. Wenn sie unangenehm riechen, gehen wir auf Abstand. Wir können sie schlicht nicht riechen.
Auch wenn man einen Unterschied machen müsste: Zwischen denen, denen ihr Geruch bewusst ist, aber egal, die sich vielleicht sogar so abgrenzen. Und denen, die sich selbst ausgeliefert sind, hilflos, die unfähig sind, dem Geruch eine Hygiene entgegenzusetzen. Der Geruch ist dann vielleicht auch ein Hilferuf.
Menschen in Übergängen des Lebens riechen oft. In verletzlichen Zeiten. Jugendliche in der Pubertät, deren Hormone stärker werden. Alte Menschen nehmen manchmal einen anderen Geruch an. Erkrankte. Einsamkeit riecht. Kann man jemandem helfen, bevor er so riecht, dass alle vor ihm wegrennen?
Der Mann aus dem Presseladen kommt mir in der Bahnhofshalle entgegen, unwissend, dass um seine Gegenwart im Laden nun ein Duftspray liegt. Er scheint hier seine Runden zu gehen. Ich denke daran, dass alle, die so stark riechen, einmal Kinder waren. Als Säuglinge muss sich jemand um sie gekümmert haben, sie im Arm gehalten, sie gesäubert, mit ihnen gekuschelt haben. Sonst hätten sie nicht überlebt. Sie alle waren einmal klein, hatten ein Zuhause, für sie wurde eine Zukunft gedacht. Und jetzt sind sie ganz allein. Jetzt schauen die Menschen sie feindlich an. Jetzt werden sie weggesprüht. Doch auch bei dem Mann im Laden war es so. Der Geruch wurde nur überdeckt. Er bleibt stark in Erinnerung.
Foto: Christa Pfafferott