Ausschnitt aus der Rede „Verletzlichkeit“
anlässlich der Vernissage „Grenzviertel“, am 26.1.2018, im „Mercedes Me Store Hamburg“
Sehr geehrte Gäste, liebe Künstlerinnen und Künstler,
Es gibt Menschen, von denen würde ich gerne wissen, wie sie heute die Entwicklung unserer Welt sehen. Dazu gehört die amerikanische Autorin Susan Sontag. Sie wäre heute vor genau zehn Tagen – am 16. Januar – 85 Jahre alt geworden.
Vor 40 Jahren erschien in Deutschland ihr Essay „Über Fotografie“. Dieser Text enthält einen bahnbrechenden Gedanken:
Jedes Foto ist ein memento mori, schrieb Susan Sontag:
„Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge).“ [1] Sie sagt: weil Fotos einen Moment erstarren lassen, bezeugen sie „das unerbittliche Verfließen der Zeit.“[2] Ein Foto hält das Leben scheinbar an und legt es so auf ein bestimmtes Bild fest.
Jedes Foto ist damit ein Grenzübertritt. Es ist ein Zeugnis von Realität – und: es erfindet Realität mit.
Ein Bild ist damit eine Form der Aneignung. Susan Sontag betrachtete diesen machtvollen Akt – zurecht – auch kritisch. Eine Aneignung enthält jedoch auch etwas Positives: Fotografieren bedeutet teilnehmen.
Es ist nicht selbstverständlich, dass sich Menschen ein eigenes Bild machen dürfen. Und es ist auch nicht selbstverständlich, dass dafür ein Raum vorhanden ist.
Mein Name ist Christa Pfafferott. Ich bin Künstlerin aus Hamburg und habe das Fotografie-Seminar „Punctum. Wie wir Bilder machen, die bestechen“ an der Universität Hamburg geleitet. In diesem Seminar haben sich in den letzten Monaten zwölf Studierende das Hamburger Münzviertel angeeignet. Die Fotos, die dabei entstanden sind, sind hier nun heute Abend zu sehen.
Jeden zweiten Freitag sind wir zu 15 Personen losgezogen und haben das Viertel – ja, man kann sagen – belagert, haben es beschritten, erkundet und in seiner Wandelbarkeit und Verletzlichkeit kennenglernt.
Die Menschen dort haben uns auch beäugt, sie scheinen sich gefragt zu haben: Was treiben die da?
Sie haben diese Fragen jedoch auch ausgesprochen und sich dem Blick der Kamera zur Verfügung gestellt. Und sie haben uns unseren Freiraum gelassen.
Auch deswegen war es ergiebig, das Münzviertel als Ort für Foto-Aufnahmen zu wählen. Es ist kein Viertel wie so manches andere in Hamburg, dem ein bestimmtes Image zugeschrieben wird. Es besitzt aus sich heraus Persönlichkeit.
Wer es noch nicht kennt: Das Münzviertel gehört zum Stadtteil Hammerbrook und liegt hinter dem Hauptbahnhof zwischen der Hafen-City und St. Georg. Es wird eingegrenzt von großen Verkehrslinien. Auf der einen Seite sind das Bahnschienen, auf der anderen Seite die mehrspurige Amsinckstraße, die zur Autobahn führt.
Das Viertel bildet somit eine Ritze zwischen Ankommen und Weggehen. Es ist eine Unbestimmtheitszone, mit Rissen, Widersprüchen, in dem Zerfall und Aufbau, Subkultur und Bürobetrieb aufeinandertreffen.
Es gibt dort u.a ein afrikanisches Restaurant, einen Moscheeraum und soziale Einrichtungen die sich mit den Problemen im Viertel befassen: Obdachlosigkeit, Drogen, Armut. Das Münzviertel ist dreckig aber auch bunt, von KünstlerInnen bemalt und bearbeitet, es gibt hier mehrere Galerien. Hier hat man das Gefühl, sich nicht unbedingt in Hamburg, sondern in einem unspezifisch-urbanen Raum zu bewegen. Das gibt einem das Gefühl von Freiheit.
Heute Abend zeigen die Studierenden jeweils drei Bilder aus ihren Fotoserien, die sie im Münzviertel gemacht haben.
Bildästhetisch haben wir uns dabei an dem sogenannten „Punctum“ von Roland Barthes orientiert. Als „Punctum“ bezeichnet er das besondere Detail in einem Bild, das die Betrachter „besticht“.
Inhaltlich orientieren sich die Fotos am Thema der Grenze:
Unser Leben ist durch Grenzen geprägt. Viertel sind zum Beispiel durch Straßen begrenzt, als Menschen grenzen wir uns allein schon durch unseren Körper von unserer Umgebung ab. Grenzen helfen uns auch, uns zurechtzufinden, Begegnung kann etwa in den Grenzen eines Fußballfelds oder eines Vereins-Raumes stattfinden.
Doch zunehmend wird öffentlicher Raum allzusehr beschnitten, privatisiert, werden Menschen in ihm eingezwängt. Es entstehen Kältezonen, in denen vielfältige Identität schwer möglich ist. Das wird auch im Münzviertel sichtbar.
Besonders eindrücklich war dies, als wir uns in der Stadtmission aufhielten. An einem kalten Tag habe ich die Mitarbeiter gefragt, ob sie uns einen Raum geben könnten, damit wir unsere Bilder besprechen können. Die Mitarbeiter haben uns 15 Personen sofort ein Zimmer mit Steckdosen und etwas zu Trinken zur Verfügung gestellt. Wie schön war es, an diesem Tag von der Straße in die Wärme zu kommen! Von der Terrasse zeigte uns ein Mitarbeiter dann die großen, gläsernen Hotels, die um das Münzviertel herum entstehen. Er erzählte, dass es Obdachlosen an bestimmten Plätzen nicht mehr erlaubt sei, ihre Lager für die Nacht aufzuschlagen.
Sich etwas anzueignen ist nicht selbstverständlich.
Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen oder Dinge. Bilder halten fest, dass diese Verletzlichkeit existiert. Menschen benötigen einen gewissen Raum, um am Leben teilnehmen zu können. Es ist ein urmenschliches Bedürfnis, ein noch so kleines Zuhause zu besitzen, sich einen Raum individuell anzueigen.
Der Wille und die subversive Kraft, sich dies aufzubauen, zeigen die Fotos heute Abend.
– Herzlich willkommen zu unserer Ausstellung „Grenzviertel!“ –
[1] Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt a.M. 2004, S. 21.
[2] Ebd.
Beitragsbild: © Christa Pfafferott, Münzviertel 2017
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