erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 12.6.2020
Es gibt Menschen, die können zuhören, wirklich zuhören. Mit diesen Menschen gelangen die eigenen Worte in einen weiten Raum. Dort hängen sie wie Gemälde, die genau betrachtet werden. Unter diesem Blick wandeln sich die eigenen Sätze zu Bildern, vor denen man selbst überrascht steht. Und es gibt Menschen, die lassen die Worte auf den Boden fallen. Sie geben ihnen keine Bedeutung. Immer wieder begegnen einem die einen und die anderen Menschen. Und die Frage bleibt: Wer sind wir?
Eine Fahrt im fast leeren Zug. In einem Vierer-Abteil sitzt eine ältere Dame am Fenster, sie blättert durch eine Zeitschrift und schnieft in ein Taschentuch. Sie hat diesen Ausdruck von Menschen, die sich behaglich an einem Ort niedergelassen haben.
Dann steigt ein Mann um die 40 Jahre ein. Er trägt eine hochwertige Maske. Sein Koffer, seine Kleider sind neu, alles an ihm strahlt etwas Akkurates aus. Er geht durch den Wagon, an den leeren Sitzen vorbei auf die Frau zu. Er zeigt auf ihren Platz: „Hier ist reserviert.“
„Ich hab auch reserviert“, sagt sie. Sie schauen beide auf die Anzeige am Sitz. „Das ist mein Platz“, sagt der Mann.
„Ich hab auch reserviert, aber in dem Zug an einem anderen Tag“, sagt die Frau. „Den konnte ich dann nicht nehmen.“
Die Frau trägt keine Maske. Der Mann lehnt sich von ihr weg. Die beiden warten. Schließlich steht die Frau auf, der Mann setzt sich. Sie wechselt auf den Platz gegenüber im Vierer-Abteil. Die beiden trennt nun nur die schmale Tischplatte, nicht mindestens 1,5 Meter wie vorgeschrieben.
Der Mann reibt sich die Hände mit Desinfektionsmittel ein. Er schaut sie verärgert an. Man merkt ihm den Zwiespalt an, ob er mehr Abstand zu ihr suchen oder auf seinem reservierten Platz bleiben soll.
Die Frau scheint seine Unzufriedenheit zu spüren: „Ich kann auch da rübergehen.“ Sie zeigt auf das Vierer-Abteil nebenan im Gang. Er sagt nichts, auch nicht Nein.
Als würde sie verstehen, was das bedeutet, wechselt die ältere Dame nun zu den Vierer-Plätzen neben ihm. Der Mann blickt erleichtert, er breitet seine Sachen aus.
„Ich bin 92 Jahre alt, deswegen ist man nicht mehr so empfindlich“, sagt die Frau.
„Das hätte ich nicht gedacht, dass Sie schon 92 sind“, sagt der Mann: ein Kompliment wie ein Geschenk für ihre Distanz.
„Doch.“ Die Frau liest in ihrer Zeitschrift. Tatsächlich hat sie etwas Junggebliebenes an sich, sie ist durch kein Gebrechen gezeichnet. Sie muss 1928 geboren sein. Bereits elf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, 17 Jahre alt, als er endete. Nun, mit 92 Jahren, erlebt sie die Coronapandemie. Was sie wohl darüber denkt?
Plötzlich nach einer Weile, als wären die Worte des Mannes wie Zutaten in sie hinabgesickert, die nun ihre Wirkung entfalten, bricht es aus ihr hervor: „Ich bin schon längst eingecheckt auf dem Platz. Deshalb.“
„Ja, ja“, sagt der Mann. „Ist mir sonst auch nicht so wichtig mit den Reservierungen.“
Die Frau sieht das erste Mal seit der Zugfahrt irritiert aus, unzufrieden. Etwas scheint sie zu stören. Eine halbe Stunde vergeht, dann holt sie ihr Ticket heraus und geht zum Mann hinüber. Sie beugt sich zu ihm hinunter. Ihr Gesicht ist ganz nah vor seinem. Der Mann hält sein Handy hoch, wie um sich damit vor ihrem Atem zu schützen. Sie zeigt auf ihr Ticket:
„Ich bin wegen der Krankheit so lange weg gewesen. Ich hatte den Zug gebucht. Ich musste die ganzen Wochen warten, bis ich wieder fahren konnte.“
„Ja, ja.“ Er nickt.
„Nicht, dass sie denken, die Alte da quasselt dummes Zeug.“
„Ne, ne“, sagt der Mann. „Denk ich nicht.“
Doch er hebt ihre Worte nicht auf. Er schaut sie nicht an. Sie bleiben ein Geräusch und werden nicht zu einer Geschichte. Es muss die Rückfahrt der 92-jährigen Frau gewesen sein, die sie reserviert hat, bevor sie wochenlang an dem Ort festhing, an dem sie war, als das Virus ausbrach. In all der Zeit war das ihr Platz, ihr Ticket zurück. Die Frau setzt sich wieder und sagt: „Wir kommen schon alle nach Hause. Irgendwie.“ Der Mann nickt abwesend. Er hört nicht ihren Trost, mit dem sie auch ihn meint: „Wir kommen schon alle irgendwie nach Hause.“
Foto (Symbolbild): Christa Pfafferott