„Jeder Mensch hat eine Taube“ – taz
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 22.3.2019
Kann ich Ihnen helfen?“ Die Frage der Verkäuferin wirkt auf mich auffordernd, als ob ich etwas wollen, etwas kaufen sollte. Dabei will ich nur etwas stöbern: Die Verkäuferin sitzt einsam hinter dem Verkaufstisch und schaut mich an. Ich habe gerade einen Laden für Einrichtungsartikel betreten. Ich bin die einzige Kundin. Ihre Frage klingt wie ein verlorener Hilferuf, wie ein „Können Sie bitte etwas kaufen?“. Ihre Frage zieht mich weg von den Dingen in eine Verbindung mit ihr, die ich gerade gar nicht will.
„Danke. Ich schaue erst mal“, sage ich.
Ich gehe zwischen den Tischen umher. In der Stille hallt jeder meiner Schritte, die Augen der Verkäuferin folgen mir. Dann sehe ich tatsächlich etwas. Einen Wecker. Schön sieht er aus, schlicht, aber mit einem Kratzer. Sie haben gerade eine Rabattwoche im Laden. Ich frage, ob sie den Preis reduzieren kann. „Ja“, sagt die Frau. Sie packt den Wecker nach dem Kauf sogar in Geschenkpapier ein. Ganz sorgfältig. Sie hat Zeit.
Als ich gehen will, schaut sie mich direkt an. Als müsste sie schnell noch etwas loswerden: „Da ist eine Taube“, flüstert sie schnell.
„Eine was?“ „Eine Taube.“ „Hier?“ „Ja, unter dem Bären!“
Für einen kurzen Moment überlege ich, ob sie verwirrt ist, ob sie vielleicht aus einer anderen Welt zu mir spricht. Doch dann sehe ich ihn. Neben der Tür steht ein riesiger Spielzeugbär, der seine Arme nach oben streckt. Groß wie ein Mensch. „Darunter“, sagt die Frau. „Ein Mädchen hat sie heute Vormittag entdeckt. Zwischen den Beinen“, sagt sie leise, als sollte uns die Taube nicht hören.
Ich gehe zum Bären. Die Frau zögert, dann folgt sie mir. „Da!“ Dunkel und struppig sitzt dort ein Vogelwesen zwischen den Beinen des Bären, ganz still. Die Taube muss von der Fußgängerzone hineingelangt sein. Etwas Unglückliches, Dunkles geht von ihr aus. Sie schaut aus schwarzen, matten Augen. Die Frau scheint Angst vor dem Tier zu haben, als wäre es zum Sterben zu ihr gekommen. Als würde die Taube ihr Unglück bringen.
Ich realisiere jetzt, dass sie schon den ganzen Tag allein mit dem Tier in der Stille in diesem Laden sitzt: Zu viel Angst vor einer Entscheidung. Auf einmal steigt Beklommenheit in mir auf, nicht wegen der Taube, sondern wegen der Frau, die hier still mit der Taube verharrt. Ich halte das eingepackte Geschenk in der Hand. Ihr Entgegenkommen mit dem Wecker fühlt sich jetzt wie eine Verpflichtung an, ihr im Gegenzug zu helfen.
„Komm, wir holen sie raus.“ Zusammen heben wir den riesigen Bären an und bugsieren ihn etwas nach hinten. Die Taube liegt jetzt frei. Sie rührt sich nicht. Die Frau bewegt sich langsam, als würde sie nur ausführen, was ich anordne. Ihre Hilflosigkeit verärgert mich. „Haben Sie einen Stab, etwas, womit man sie vorsichtig anstupsen könnte?“ Sie verschwindet und kommt mit einem Besen zurück. Sie reicht mir den Stab, als wäre es selbstverständlich, dass ich es ausführe.
Vorsichtig tippe ich die Taube mit dem Stiel an. Ganz langsam erhebt sich die Taube, als wüsste sie, dass sie nun gehen muss. Auf dem Boden lässt sie ein paar schwarze Federn zurück. Wir schieben sie hinaus aus dem Laden, durch die Tür in die Fußgängerzone. Vor dem Geschäft setzt sich die Taube wieder. Sie rührt sich nicht mehr. „Sollen wir den Tierschutz rufen?“, frage ich. „Das mache ich gleich“, sagt die Frau hastig. „Danke“, sagt sie dann plötzlich zu mir. „Vielen Dank“, als wollte sie die Situation nun schnell verlassen. Die Verkäuferin geht wieder rein und schließt schnell die Ladentür hinter sich, damit die Taube nicht mehr hineinkommt.
Die Frau wirkt, als wäre sie weit über ihre Angst hinausgegangen und kehre nun erschöpft an ihren Ruheplatz zurück. Die Taube zieht ihr Gefieder zusammen und drückt sich etwas an die Ladenwand. Zwei neue Kunden öffnen die Tür und gehen ins Geschäft. Ich schaue auf die Frau, die ängstlich nach draußen zur Taube blickt. Ich spüre auf einmal, dass sie die Taube noch nicht los ist. Das ist die Taube, die jeder Mensch hat. Und irgendwas wird bald wieder in ihre Welt hineingeraten, was sie hinaustragen muss.
Foto (Ausschnitt): Alexander Mayer