Im Wald – taz
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 13.11.2020
Die Welt ist laut. Der Wald ist still. Draußen kursieren Corona, Ängste, Konflikte und Wut. Drinnen im Wald wirkt das Geschehen unwirklich, weit weg. Erster Winterfrost knirscht unter den Füßen. Die Luft ist feucht und satt von Sauerstoff. Ein Specht klopft an einen Stamm. Sonst ist es still.Wir sind in den Wald gefahren, um Pilze für das Abendessen zu sammeln. Die letzten Wochen waren feucht. Es sollen wieder viele Pilze stehen.
Als wir in den Wald treten, steht dort gleich zu Beginn ein großer Fliegenpilz. Leuchtendes Rot mit weißen Punkten. Ein Bild wie aus einem Märchen. Das Eintrittszeichen in eine andere Welt. Fliegenpilze sind ein gutes Zeichen für weitere Pilze. Vielleicht haben wir ja heute Glück.
Im Wald ist es dämmrig, Licht bricht durch die Bäume, das Moos leuchtet grün. Die letzten bunten Blätter fallen langsam von den Bäumen. Hier könnte jetzt auch ein Reh stehen oder eine Fee huschen, ein Rotkäppchen kichernd zwischen den Bäumen verschwinden.
Zu Beginn sind die Augen noch ungeübt. Es ist, als müsse man sie von den Reizen draußen erst reinwaschen, um sie auf das Wesentliche einzustellen. Wie wenn man sich Geschmäcker aus dem Mund wäscht, um einen einzelnen wahrzunehmen. Zuerst sehen wir nur Pilze mit Lamellen, die oft giftig sind. Dann finden wir Speisepilze mit Röhren auf der Unterseite der Pilzkappe. Wir freuen uns zu Beginn über jeden Pilz, auch über die, die zerrupft sind oder alt. Jeder Fund ist ein Geschenk. Wenn man einen Pilz findet, der fest ist, essbar, kribbelt es in dem Moment leicht im Bauch.
Auf einmal klingen Stimmen durch den Wald. Auf dem Hang gegenüber geht eine Familie Pilze suchen. Ihre Tüten sind voll. Dort bei ihnen war der Platz, wo wir ursprünglich hin wollten, wo wir die meisten Pilze vermutet hatten. Für einen kurzen Moment steigt die Unruhe der anderen Welt hoch. Nicht schnell genug gewesen zu sein, dass nun alles abgetragen sein könnte. Wir suchen an anderen Stellen weiter. Je länger wir suchen, umso mehr Pilze zeigen sich. Wir finden Maronen, Flockenstielige Hexenröhrlinge, deren Röhren rot sind und die sich blau färben, wenn man sie aufschneidet.
Pilzesammeln verlangt beides: sich zu konzentrieren und gleichzeitig mit den Augen offen zu bleiben, sich nicht aufs Finden zu verkrampfen. Die Pilze wachsen in kleinen, feuchten Lichtungen, sie verstecken sich im Moos, im Laub. Da, auf einmal ein brauner Pilzkopf zwischen den Blättern. Unterhalb im Moos liegt verborgen sein Stiel. Pilzesammeln macht glücklich. Es ist das Seltene, über das wir uns freuen. Zu viele Pilze auf einmal zu finden, würde nicht so viel Spaß bereiten. Zu wenige zu finden, macht auch keine Lust. Dazwischen liegt die Euphorie, durch sein Tun eine Wirkung zu erzielen.
Der Wald schwingt mit unserer Suche mit. Oder wir schwingen uns auf den Wald ein. Wie ein ruhiger Gesprächspartner bringt der Wald gleichzeitig etwas Stilles und Lebendiges in einem hervor. Der Wald macht sanft. Und dankbar. Wie schön, dass diese Welt existiert. Soviel Energie verwenden wir darauf, uns im Alltag mit all seinen Anforderungen zu bewegen, ihn als einzige Wirklichkeit wahrzunehmen. Doch ein paar Schritte hinaus und der Wald ist da. Er ist immer da. Solange wir ihm nicht seine Lebensgrundlage entziehen, gibt er uns alle Grundlage zum Leben. Lädt uns ein, sich in ihm zu verwandeln. Was für ein Geschenk, zwischen diesen Welten wechseln zu können.
Dann später, steigen wir zum Hang hinauf, wo zuvor die Familie gewesen war. Gerade dort finden wir besonders schöne Pilze, klein und knackig, frisch. Es hat nichts ausgemacht, dass andere da gewesen waren. Vielleicht haben sie auch nicht alle Pilze mitgenommen oder nicht alle gesehen. Vielleicht hat sich der Wald uns auch noch einmal anders geöffnet.
Als wir später aus dem Wald hinaustreten und zu unseren Rädern zurückkehren, steht direkt neben ihnen ein riesiger Hexenröhrling. Groß und prachtvoll, selbstverständlich. Als wir die Räder abgeschlossen haben, haben wir ihn nicht gesehen. Als hätten wir gar nicht geglaubt, dass der größte Fund schon direkt am Anfang stehen könnte. Wir hätten ihn gar nicht sehen können. Der Wald hat es uns beigebracht.