Im Gedränge – taz
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 14.10.2022
Es ist der Tag, an dem Unbekannte bei der Deutschen Bahn Kabel beschädigt haben sollen. In ganz Norddeutschland liegt der Bahnverkehr am Samstagvormittag lahm. Von Sabotage ist die Rede. Am Nachmittag wage ich mich an den Hamburger Hauptbahnhof. Ich muss nach Süddeutschland. Auf den Bahnsteigen drängen sich die Massen.
Die Situation wirkt gefährlich. Ein Mann mit schwerem Rucksack balanciert nah am Gleisrand, weil es so voll ist. Er hört nicht, wie hinter ihm ein Zug kommt. Mit einem Pfeifen fährt der Zug nur wenige Zentimeter an ihm vorbei.
Wie immer zeigt sich in Situationen wie diesen der Mensch in den Menschen. Was sie freigeben oder für sich beanspruchen. In einem überfüllten Regionalzug fahren wir nach Harburg. Von dort soll ein ICE Richtung Süden fahren. Am Bahnsteig zeigt die Anzeige 20 Minuten Verspätung an. Vom Bahnhofsgebäude dröhnen betrunkene Fan-Gesänge. Ein Soundtrack, der die ohnehin unruhige Stimmung laut umspannt.
Neben mir macht eine Gruppe Witze: „Wetten, gleich kommt die Durchsage, dass der Zug ganz ausfällt“, sagt eine Frau. „Hör doch auf“, sagt ein Mann in Schalke-Trikot. „Wenn die jetzt sagen, der Zug fährt auf einem anderen Gleis, dann renn’ich da einfach über die Schienen. Ich schwör’.“ „Aber dann laufen sie alle hinter dir her“, sagt die Frau.
Endlich kommt der Zug. Die Menschen drücken zu den Türen. Ich stehe am allerletzten Waggon. Eine Mutter fasst ihren Sohn fest an beiden Händen, in Panik, dass er ihr entrissen wird. „Vorsicht! Ich hab einen Hund am Boden“, ruft eine junge Frau.
Als ich endlich im Zug stehe, sehe ich links, in dem kleinen Abteil am Zugende mit zwei Vierersitzen, auf einem Fensterplatz eine Jacke liegen: „Ist der noch frei?“ Jemand nickt. Ich fasse es nicht. Ich habe in diesem Gedränge einen Platz in einem ruhigen Abteil bekommen. Vor mir steht ein Bierfass von den Fußballfans, die zuvor im Zug waren.
Die erste Durchsage dringt durch den Zug: „Entschuldigen Sie. Dieser Zug konnte nicht gereinigt werden. Gleich kommt Personal, um den gröbsten Schmutz zu entfernen. Bitte lassen Sie es durch.“
„Jetzt haben sie die Kabel bei der Bahn durchgeschnitten“, sagt die Frau neben mir. „Wer macht denn so was? Wo die Welt doch eh schon aus den Fugen ist. Wer macht denn so was?“
Wieder kommt eine Durchsage von einem Zugbegleiter. „Die meisten Personen sind jetzt in den letzten Waggons. Vorne in Wagen acht sind noch Plätze frei. Deswegen gehen Sie bitte einfach mal weiter.“
„Da geht keiner weiter“, sagt meine Sitznachbarin. Nach ein paar Minuten wiederholt sich die Durchsage: „Einfach mal nacheinander nach vorne gehen. Dann finden Sie einen Platz. Einfach mal weitergehen. Gehen Sie einfach mal weiter.“
Der Zugbegleiter wiederholt seine Sätze, als wollte er nicht verstehen, wie man nicht zu seinem Glück finden kann. Sein Sprechen wirkt wie eine Metapher für unsere Gesellschaft. Alle wollen weiter. Die meisten finden die Situation jetzt, wie sie ist, unerträglich. Aber kaum jemand geht einfach weiter. Das Aufraffen, um die Lage zu ändern, sei sie noch so unbequem, scheint schwieriger zu sein, als einfach in der Situation zu verharren.
„Einfach mal weitergehen“, sagt der Zugbegleiter. Er spricht jetzt nur noch in Überschriftsätzen.
Später versuche ich durch den Gang auf Toilette zu gehen. Doch die Menschen stehen so dicht, dass ich nicht durchkomme. Im Abteil riecht es nach Körperdünsten und Essen. Auf dem Boden sind Drecklachen. Unten in den großen Gepäckablagen liegen Jugendliche zusammengerollt auf den Boden. „Klo kannste vergessen“, sagt ein Mann. „Guck besser nich’rein. Das ist komplett voll.“
Ich gehe wieder zurück. Die junge Frau mit dem Hund vom Gleis hat sich nun zu uns durchgeschlagen. „Ich fasse es nicht. Da vorne steht ein Mann in Mittelalterkostüm.“ Sie schüttelt den Kopf. Tatsächlich. Ein Mann in Mittelalterkluft steht stoisch im Gang. Ein Mensch wie ein Gruß aus vergangener Zeit. Da erklingt die Durchsage wieder: „Einfach mal weitergehen. Bitte! Gehen Sie einfach voran!“